Reformationsjubiläum Von Dr. Thomas Hahn-Bruckart  | 

Luther und der Kampf um die evangelische Deutungshoheit

Bildnachweis: Karlstadt: Universitätsbibliothek Basel / Gemeinfrei; Müntzer: Wikimedia.org/Michael Sander, CC BY-SA 3.0
Luthers Reformation entzündete sich zwar an Missständen in der katholischen Kirche, in den ersten Jahren war der Reformator aber hauptsächlich damit beschäftigt, das eigene Lager zu kontrollieren. Dabei ging er mit abweichenden Meinungen nicht zimperlich um.
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Denkt man an Luther und die Auseinandersetzungen in denen er stand, so denkt man vor allem an seinen Kampf gegen die römische Kirche. Dass Luther aufs Ganze gesehen aber weitaus mehr damit beschäftigt war, seine reformatorische Botschaft nach »innen« – also anderen reformatorischen Gestalten und Bewegungen gegenüber – abzugrenzen und abzusichern als nach »außen«, mag auf den ersten Blick überraschen. Erklärbar wird dies, wenn man sich vor Augen hält, dass die reformatorische Bewegung in ihrer Frühzeit keinesfalls einlinig und einheitlich Gestalt gewann, sondern dass es hier vielfältige Verschmelzungen theologischer, politischer und sozialer Motive gegeben hat. Identitäten und Gruppen mussten sich erst noch formen, die Dinge waren im Fluss.

Will man Luthers Perspektive auf diesen Differenzierungsprozess in den Blick bekommen, so muss man zunächst nach Wittenberg schauen, wo man im Kollegenkreis der Universität zu einer »theologia nostra«, einer gemeinsamen Theologie gelangt war, die im Einzelnen durchaus unterschiedliche Akzente tragen konnte, aber doch auf gemeinsamen Grundlagen beruhte. Dieser Gemeinschaft vertraute Luther – zunächst auch, als er gezwungenermaßen auf der Wartburg weilte.

Während er sich scharf davon abgrenzte, wenn es andernorts unter Berufung auf ihn zu Unruhen kam – gewaltsames Vorgehen mit »aufrührerischem« Potential war für ihn ein Werk des Teufels – konnte er bezüglich Wittenberg eine gewisse Nachsicht zeigen. Übermütige Studenten dort sah er durch seine Kollegenschaft in ein gewisses Korrektiv eingebunden. Genau das begann aber im Winter 1521/22 zu bröckeln. 

Ein »schwirmiger Geist«

Es war zunächst der Luther besonders nahestehende Philipp Melanchthon, der neben dem lautstarken Ordensbruder Gabriel Zwilling Reformen in der Stadt voranzutreiben suchte und unter anderem mit Studenten das Abendmahl unter beiderlei Gestalt feierte – den Gläubigen wurde sowohl Brot als auch Wein gereicht. Sein Kollege Andreas Karlstadt feierte erst, nachdem er sich in seinen Messverpflichtungen nicht mehr vertreten lassen konnte, an Weihnachten 1521 öffentlich und unter großem Zulauf einen »evangelischen« Abendmahlsgottesdienst in der Stadt. Kurze Zeit drauf findet sich diese Praxis auch in anderen Städten im Umkreis.

Zur gleichen Zeit kommen drei Männer nach Wittenberg, die für sich prophetische und apostolische Berufung beanspruchen und Melanchthon zutiefst verunsichern. Er wendet sich an Luther, der die Männer ironisch – ihre Herkunft aufgreifend – als »neue Zwickauer Propheten« bezeichnet. Zwickau war in den anderthalb Jahren zuvor ein Unruheherd gewesen, da der von Luther dorthin empfohlene Prediger Thomas Müntzer für Spannungen in der Stadt gesorgt hatte und dort als »schwirmiger geist« kritisiert worden war.

Das Ausgreifen neuer Gottesdienstformen über Wittenberg hinaus führte zu politischen Aktivitäten auf Reichsebene. Und dadurch, dass im Januar 1522 vom Wittenberger Rat eine neue Stadtordnung verabschiedet wurde, an der Karlstadt maßgeblich beteiligt war, entstand ein Konflikt mit dem Landesherrn, in dem sich die kurfürstlichen Räte mehr und mehr auf Karlstadt einschossen. All diese Entwicklungen führten nun dazu, dass Luther sich genötigt sah, selbst einzuschreiten, sollte die ganze Bewegung aufgrund der äußeren Umstände nicht untergehen oder aufgrund innerer Unklarheiten die von ihm erkannte Botschaft des Evangeliums verdunkeln.

»Vom Teufel getrieben«

Nach seiner Rückkehr stellte nun auch er Karlstadt als denjenigen hin, der ihm – vom Teufel getrieben – in seine Wittenberger Hürde gefallen sei und für Unordnung sorge. Karlstadt wurde in Wittenberg zusehends isoliert und mit einem Predigt- und Publikationsverbot belegt. Schließlich wich er nach Orlamünde nahe Jena aus, wo er sein Ideal einer egalitären, von Laien getragenen und an biblischen Vorbildern orientierten Gemeinde umzusetzen versuchte.

Luther bemühte sich mit Rückendeckung des Landesherrn, den Einfluss der von ihm »Abgewichenen« im östlichen Thüringen – neben dem pazifistischen Karlstadt gehörte dazu auch der zusehends militante Thomas Müntzer – zurückzudrängen. Im September 1524 wurde Karlstadt aus Kursachsen ausgewiesen, nachdem bereits im Monat zuvor Müntzer die kursächsische Exklave Allstedt, in der er als Pfarrer wirkte, hatte verlassen müssen.

Fortan dominierte ein an den fürstlichen Interessen orientiertes Reformationskonzept in Kursachsen, das denjenigen, die alternative Verwirklichungsformen verfolgten, kaum Entfaltungsmöglichkeiten ließ.

Zugleich waren nun bereits die Elemente ausgeprägt, die auch für die spätere Einordnung anderer reformatorischer Entwürfe maßgeblich werden sollten: Ablehnung von Unordnung und Aufruhr, eine verteufelnde Konzentration auf einzelne Führungsgestalten, vehemente Kritik an der Berufung auf unmittelbare Geisteseingebungen und einer selbstmächtigen Überschätzung menschlicher Aktivität. Diese Einzelphänomene wurden von Luther zu einem Gesamtphänomen verdichtet, das unter dem Schlagwort der »Schwärmerei« im Luthertum langfristige Wirksamkeit entfalten sollte.

Einordnung in das bestehende Machtsystem

Man kann sagen, dass bevor die Täufer – und damit neben den Karlstadt- und Müntzeranhängern eine wirklich dauerhafte evangelische Minderheit – historisch auf den Plan traten, das Modell für ihre

Einordnung damit bereits in wesentlichen Zügen vorgebildet war. Luthers konkrete Kenntnisse täuferischer Theologien und Gruppenbildungen waren gering, aber für ihn waren die Täufer Teil »jenes vom Teufel hervorgerufenen Syndroms der Schwärmerei, das sich erstmals bei Karlstadt und Müntzer bemerkbar gemacht hatte«, wie es der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann formuliert. Ein Ausschluss sollte primär durch Ausweisung geschehen, allerdings stand Luther später der reichsrechtlichen Maßnahme der Todesstrafe nicht ablehnend gegenüber.

Damit war ein Wahrnehmungsraster geschaffen, das zwar aus einem durchaus zu würdigenden theologischen Kernanliegen – der Sicherung der Rechtfertigungsbotschaft – heraus entstanden war, in seiner Pauschalität aber zu einem polemischen Instrument wurde, das in der Folgezeit eine differenzierte Wahrnehmung andersartiger religiöser Phänomene erschwerte. Und so fielen auch im 19. Jahrhundert die nach Deutschland kommenden Methodisten genau unter dieses Verdikt: Sie waren »Schwärmer«. Die ökumenische Bewegung brachte eine allmähliche Befreiung von solchen mentalen Mustern und Stereotypen – die Frage nach vorgefertigten Meinungen und Bildern im Hinblick auf andere Glaubensweisen aber ist allen aufgegeben.

Entnommen aus: »unterwegs« 7/2017