Unruhen in Malawi Von Olav Schmidt  | 

Vom Sieg der Vernunft

Malawi, ein begeisternd schönes Reiseland: Hier das sich aus der Ebene bis zu einer Höhe von 3.000 Metern erhebende Mulanje-Bergmassiv
Malawi, ein begeisternd schönes Reiseland: Hier das sich aus der Ebene bis zu einer Höhe von 3.000 Metern erhebende Mulanje-Bergmassiv
Bildnachweis: Olav Schmidt
Malawi ist ein großartiges Reiseland. Was es mit den im Herbst letzten Jahres aufgetauchten »Blutsaugern« auf sich hat, erzählt Olav Schmidt.
7 Minuten

Magische Morde und mob-artige Tumulte rückten das im Südosten Afrikas gelegene Malawi von Ende September bis in den November hinein ins mediale Licht der Weltöffentlichkeit. In Sorge um die als Mitarbeiter der EmK-Weltmission im malawischen Blantyre lebende Familie Schmidt hatte emk.de nach deren Ergehen gefragt. Olav Schmidt berichtet von dem Erlebten:

Blut für magische Mittel?

»Vampire in Malawi!« titelte die Online-Ausgabe des »Stern« Ende Oktober. Vampire, diese angsteinflößenden mittelalterlichen Wesen, die ihre Opfer in den Hals beißen und sich so das für sie selbst so lebenswichtige Blut beschaffen – und das in Malawi? Das Mittelalter ist auch in Malawi längst vorbei, an Vampire glaubt hier kaum jemand. Vielmehr sind es menschliche Wesen, die, so die Gerüchte, mit betäubenden Gasen Menschen einschläferten und ihnen dann mit medizinischer Ausrüstung Blut absaugten. Daraus sollen dann magische Mischungen mit wundersamen Wirkungen hergestellt und teuer verkauft werden. Doch der Reihe nach:

21. September: Ein Pastor aus der Region Mulanje, eine Autostunde südöstlich von Blantyre, schreibt via Handy-Textnachricht: »Brüder, mehr Gebete bitte. Wir verbringen schlaflose Nächte aus Angst vor den Blutsaugern!« Ich schreibe zurück: »Sind es Fledermäuse oder Vampire?« Er: »Menschliche Blutsauger!« Ein anderer Pastor schaltet sich ein: »Die Polizei sagt, es gibt keine Blutsauger!« Prompt antwortet ersterer: »Nach meinen Informationen existieren diese Leute!«

29. September: Wir erfahren von einem Überfall auf Wanderer. Sie waren im beliebten bis zu 3.000 Meter hohen Mulanje-Bergmassiv, dem Namensgeber der dortigen Region, unterwegs. Ihr Führer kam dabei ums Leben. Ein Raubüberfall? Die Medien schweigen. Wie wir später erfahren, sind in Mulanje nachts keine Krankenwagen mehr zu Einsätzen unterwegs. Weil darin die ominösen »Blutsauger« vermutet würden, sei ein Fahrzeug schon mit Steinen beworfen worden.

4. Oktober: In verschiedenen Regionen tötet der Mob insgesamt sechs Menschen, die als »Blutsauger« verdächtigt werden. Jetzt nimmt sich die Presse dieses Themas an und betreibt Ursachenforschung. Das »abgezapfte Blut« würde von den im Land befindlichen internationalen Organisationen gegen Lebensmittel getauscht, lautet eine gängige Vermutung. Andere bringen die Opposition mit den Gerüchten in Verbindung. Diese wolle damit die Regierung schwächen und stürzen.

10. Oktober: Erste internationale Organisationen, unter ihnen die UNO, ziehen Mitarbeiter aus den gefährdeten Regionen ab. Die US-Botschaft untersagt ihrem Personal Reisen in gefährdete Gebiete. Der Präsident meldet sich zu Wort und entsendet Mitarbeiter.

14. Oktober: Der Präsident besucht Menschen, die Opfer der »Blutsauger« geworden sind und ruft die Kirchen zum Gebet auf.

17. Oktober: Stammesälteste, die sogenannten »Chiefs« kündigen an, das Böse durch Magie zu bekämpfen. »In zwei Wochen wird ein Wunder geschehen«, ist die Botschaft, die sich verbreitet.

19. Oktober: In Blantyre wird an der Straße zum Flughafen, keine zehn Minuten von uns entfernt, ein Epileptiker von der Polizei verhaftet. Er war als »Blutsauger« verdächtigt worden. Weil er nicht schnell genug abtransportiert wird, holt ihn die Menschenmenge aus dem Polizeigewahrsam, tötet ihn und zündet ihn dann an. In einem anderen Stadtteil werden Barrikaden errichtet und angezündet. Die Polizei greift zum hier üblichen Tränengas, um die Menge auseinanderzutreiben.

20. Oktober: An diesem Tag fahre ich, wie immer an einem Freitag, durch den am Tag zuvor von den Unruhen betroffenen Stadtteil ins eine Autostunde entfernte Zomba. Dort unterrichte ich am Theologischen Seminar. Alles scheint ruhig. An einigen Stellen lässt der durch das Feuer der Barrikaden geschmolzene Asphalt die Ereignisse des Vortags erahnen. Mir kommt ein Militärkonvoi entgegen. Ich ahne, dass der Staat in dieser Nacht zurückschlagen wird. Während 140 Personen verhaftet werden, wird in einem anderen Teil Blantyres um Mitternacht ein Arzt auf seinem Heimweg von der Nachtschicht an einer Barrikade aufgehalten und angegriffen. Nun fahren die Ärzte, auch unser Nachbar, nachts nur noch unter Polizeischutz zum Dienst.

21. Oktober: Die Medien beraten sich, wie sie über die sich geradezu hysterisch ausbreitende Angst vor »Blutsaugern« und die damit verbundene Gemengelage weiter berichten sollen. In der Folge wird es ruhiger, man liest kaum noch etwas von Gewalt gegen mutmaßliche »Blutsauger«.

22. Oktober: Der Präsident distanziert sich von Magie als möglicher Strategie zur Abwehr der ominösen Vorkommnisse. Die ersten Urteile werden gesprochen: drei Monate Haft »mit harter Arbeit« für das Verbreiten von Gerüchten.

25. Oktober: Die Agentur Reuter verbreitet ein Twitter-Video, das die Steinigung eines angeblichen »Blutsaugers« in allen Details zeigt. Die Zahl der Verhaftungen durchbricht die 200er-Marke. Ein weiteres Urteil wird gesprochen, diesmal sind es 18 Monate wegen »Anstiftung zur Unruhe«. Die Suche nach den Ursachen gewinnt an Fahrt. Ärzte sprechen von einer »Massenhysterie desillusionierter Menschen«, die Katholische Universität von »sozialer und politischer Ungleichheit«, und in einem Pressekommentar wird gefragt, ob sich die intellektuelle Elite des Landes von dieser Hysterie mitreißen lasse und auch an »Blutsauger« glaube.

26. Oktober: Der deutsche Botschafter Jürgen Borsch stößt bei einem Treffen mit der Vereinigung der evangelischen Kirchen ins gleiche Horn. Gemeinsam mit der dänischen und der norwegischen Entwicklungshilfe und den Kirchenvertretern brandmarkt er die Geschichten um mögliche »Blutsauger« als pure Mythen und mahnt zu Nüchternheit. 

28. Oktober: Insgesamt sind zehn Tote, darunter zwei »Chiefs«, zu beklagen, die dem Mob zum Opfer fielen.

8. November: Bis zu diesem Tag werden noch zwei weitere Personen verhaftet. Danach ist nichts mehr zu hören. Die Regenzeit hat begonnen. Die Menschen müssen ihr Saatgut ausbringen und pflanzen. Sie haben weniger freie Zeit.

8. Dezember: Die Regierung will eine Untersuchungskommission einrichten, um den Ursachen auf den Grund zu gehen. Die Polizeipräsenz wurde verstärkt. Die Mitarbeiter der UNO sind zurückgekehrt. Es herrscht wieder Ruhe im Land. 

Hustenbonbons für Europäer

Was war die Ursache für diese Gerüchte und wieso kommt es zu solchen Gewaltausbrüchen? – Schon in den 1930er-Jahren glaubte man in Sambia, dem westlichen Nachbarland Malawis, dass das Blut der Schwarzen zu »Hustenbonbons für Europäer« verarbeitet werde. So jedenfalls zitiert Mark Hay, Redakteur der malawischen Zeitung Nyasa Times, eine amerikanische Historikerin. Bis zum heutigen Tag könnten sich viele Menschen schwer vorstellen, dass die zahllosen Hilfsorganisationen nur aus Nächstenliebe handelten. Vielleicht werde diese Hilfe ja mit Blut bezahlt, und vielleicht wachse ja deshalb der Reichtum der Politiker und Händler, während das Volk selbst arm bleibe. Der Versuch, den Glauben an »Blutsauger« auszutreiben, befeuere dann schon die nächsten Verschwörungstheorien. Irgendwie müssten Machtverhältnisse und Abhängigkeiten ja zementiert werden.

Magie bewirkt Ordnung

Der Glaube an eine jenseitige Welt sowie die damit verbundenen magischen Handlungen und damit verbundenen Tabus ist für ein Land wie Malawi eine wichtige Stütze der gesellschaftlichen Ordnung. So werden die von Händlern zum Verkauf am Straßenrand aufgetürmten Produkte selten gestohlen, »weil viele Leute glauben, dass sich gestohlene Sachen daheim in Schlangen verwandeln«. Aus dem gleichen Grund bräuchten die örtlichen »Chiefs« keine Wachleute oder Mauern um ihre Häuser, schreibt John Lwanda in einem Artikel in der Nyasa Times über die Hintergründe von Aberglauben und gesellschaftlichen Ordnungssystemen.
Die durch Magie und Tabus funktionierenden präkolonialen Strukturen gesellschaftlicher Ordnung sind in Malawi vom ersten Präsidenten durch ein rigides System von »Recht und Gesetz« abgelöst worden. Nach seiner Regierungszeit ist dieses System zusammengebrochen und hinterließ ein großes Vakuum. Von Zeit zu Zeit bahne sich die dadurch entstandene Unsicherheit auch durch Gewalt ihren Weg.

Eine zaghafte Stimme

Wie ist es angesichts dieser Situation um die Rolle der Kirchen in Malawi bestellt? Eigentlich müssten gerade sie den geistlichen Gegenpol bilden und zur Entkrampfung beitragen können. Denn in der tiefen Überzeugung von einer jenseitigen Welt sind sich Aberglaube und Glaube ja einig. Wer den Aberglauben zurückdrängen will und dabei nur auf Bildung pocht, muss aufpassen, dass er nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet. Letztlich wäre damit nämlich auch der christliche Glaube im wahrsten Sinne des Wortes weg-rationalisiert. In dieser Gefahr stehen die Kirchen zwar nicht. Aber auch sie konzentrieren sich darauf, die Gerüchte als unbegründet zurückzuweisen, was wohl dazu beigetragen hat, die Lage zu beruhigen. Malawi erweist sich als ein modernes, aufgeklärtes Land, in dem die Vernunft siegt.

Fahren, oder nicht fahren?

Unser Pastor hat mich übrigens auf seinen Bezirk eingeladen, um dort einen Gottesdienst mit Abendmahl zu feiern, da er selbst dazu nicht berechtigt ist. Ich zögere. Ist es klug, mitten in diese Region zu reisen, von der die unselige »Blutsauger«-Saga ihren Ausgang nahm? Was könnten die Wörter »Christi Blut für dich vergossen« auslösen? Die Antwort meiner malawischen Freunde und Kollegen kenne ich: »Vertraue deinem Gott!« Ist mein Glaube an Gott und an ihre Gebete dafür stark genug? Ich will glauben, also bin ich gefahren. Geschehen ist nichts, außer dass ein Huhn sein Leben ließ; nicht weil ein Magier ein Ritual vollzogen hätte, sondern weil es mir unter die Räder kam. Nichts Magisches, nur ein kleiner Unfall.

Ein phantastisches Reiseland

Wie schon oft, wenn ich so durchs Land unterwegs bin, habe ich die Fahrt genossen. Von Blantyre hinab blickt man in die weite Ebene hinein, aus der sich das majestätische Mulanje-Massiv erhebt. Der Verlauf der gut ausgebauten Straße eröffnet immer wieder neue Perspektiven auf die Berge. Im Licht der frühen Morgensonne noch nebelverhangen, klärt sich der Blick im Lauf des Tages. Als wir gegen Abend zurückfahren, wird das Land in buntes Licht getaucht. Es bleibt dabei: Malawi ist ein fantastisches und sicheres Reiseland. Eines Tages werden auch wir auf den Mulanje steigen und den Blick über die wunderbare Landschaft genießen. Von dort oben erscheint manches kleiner und unbedeutender.

Der Autor

Olav Schmidt ist Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche und seit 2016 im Dienst der EmK-Weltmission in Malawi. Er verantwortet und koordiniert die Aus- und Weiterbildung für Pastoren und Laien in der EmK in Malawi. Kontakt: olav.schmidt(at)emk.de.

Weiterführende Links

Mark Hay in der Nyasa Times vom 3.11.2017

John Lwanda in der Nyasa Times vom 27.10.2017