Wort auf den Weg Von Diederich Lüken  | 

Gott erkennt die große Sehnsucht des Menschen

Diederich Lüken mit Gedanken zu einem Vers aus Korinther: »...dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.« (1.Korinther 13,12b)
Diederich Lüken mit Gedanken zu einem Vers aus Korinther: »...dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.« (1.Korinther 13,12b)
Bildnachweis: Flammarion, wimikedia.org / Gemeinfrei
Diederich Lüken mit Gedanken zu einem Vers aus Korinther: »...dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.« (1.Korinther 13,12b)
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Manchmal ist eine erfundene Geschichte wahrer als eine auf Tatsachen beruhende Geschichte sein könnte. Der amerikanische Schriftsteller Robert Bloch (1917– 1994) beschreibt eine Brille mit der Aufschrift »veritas«, zu Deutsch: »Wahrheit«. Wenn jemand sie aufsetzt, kann er Gedanken lesen; er kann sehen, was seine Mitmenschen von ihm denken. Das Ergebnis ist jedes Mal eine Katastrophe und endet ausnahmslos mit dem Tod des Brillenträgers. Der letzte, der die Brille aufsetzt, ist so unvorsichtig und schaut damit in einen Spiegel. Er erkennt nun seine eigenen Gedanken – auch die, die er lieber nicht denken möchte und die tief in seinem Unbewussten schlummern. Er ist über das, was er in seiner Seele und in seinem Gemüt vorfindet, so entsetzt, dass er die Brille mit einem Pistolenschuss zerstört, während er sie auf der Nase trägt.

Gott kennt Abgrund und Sehnsucht in uns

So sieht es aus, wenn der Mensch die Wahrheit über sich selbst erkennen will. Diese Wahrheit ist niederschmetternd. Und wenn Gott die Wahrheit über uns erkennt – er erkennt sie eher und tiefer als wir selbst – sieht diese Wahrheit nicht schmeichelhafter aus. »Des Menschen Herz ist böse von Jugend auf«, sagt er nach der Geschichte mit der Sintflut. Aber die Erkenntnis, die Gott über uns gewinnt, hat noch andere Aspekte. Gott erkennt nicht nur das Abgründige unseres Herzens, sondern auch das, was diesen Abgrund verursacht hat: die zitternde Angst vor dem Nichtsein, das jedes Geschöpf in sich trägt. Die Gnadenlosigkeit, mit der der Mensch sich selbst zerstört in seiner Geschäftigkeit und Abhängigkeit. Gott erkennt, wie Menschen einander ausbeuten. Der Mensch zappelt wie ein Fisch im Netz, um den Umständen und Kräften zu entrinnen, die ihn so böse machen.

Und Gott erkennt die große Sehnsucht des Menschen, dass da doch endlich jemand kommen möge und ihn befreie von der Last des Lebens und von der Tiefe seiner Abgründe. Und ja: Er erkennt auch die Güte in unseren Herzen und die oft verzweifelte Suche nach Liebe, die wir geben und erfahren möchten. Gott erkennt uns ganz.

Der Blick, mit dem Gott uns anschaut und mit dem er unser Herz erkennt, ist daher kein gehässiger, verurteilender, sondern ein liebender Blick. Es ist wie in dem berühmten Gedicht von Gabriela Mistral, wenn sie ihrem Geliebten zusingt: »Wenn du mich anblickst, werd ich schön!« Wenn Gott uns erkennt, wird das Verborgene ins Licht gehoben; doch es ist das Licht der Gnade, das Licht der Liebe. Wir sind erkannt in einem liebenden Blick und erblühen in göttlicher Schönheit.

Wer das weiß, dass der Blick Gottes auf ihm ruht, kann sich getrost selbst erkennen. Er kann es tun ohne Angst, ohne Widerwillen, ohne sich vor sich selbst zu maskieren oder auf andere Weise unkenntlich zu machen. Nichts muss verborgen bleiben, denn es ist ja alles bereits erkannt von Gott. Und Gott hat nicht verurteilt, hat nicht verdammt, nicht die Todesstrafe verhängt. Er richtet mich auf vor seinem Thron und gibt mir neue Lebenskraft. Ich brauche die Brille »veritas «, zu Deutsch »Wahrheit« nicht mehr; denn die Wahrheit, in der ich stehe, ist die Liebe Gottes, die mich befreit und erlöst.

Entnommen aus »unterwegs« 4/2017