Lieblich und schön
»Lobet den HERRN! Denn unsern Gott loben, das ist ein köstlich Ding, ihn loben ist lieblich und schön. Der HERR baut Jerusalem auf und bringt zusammen die Verstreuten Israels. Er heilt, die zerbrochenen Herzens sind, und verbindet ihre Wunden. Er zählt die Sterne und nennt sie alle mit Namen. Unser Herr ist groß und von großer Kraft, und unermesslich ist seine Weisheit.« (Psalm 147,1-5)
Staunend stehe ich unter der geöffneten Kuppel einer Sternwarte am Stadtrand von Dresden und schaue in den Nachthimmel. Langsam haben sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt und nehmen immer mehr funkelnde Sterne wahr. Das 16-Zoll- Spiegelteleskop vor mir würde eine ganze Armada von Sternen vor Augen führen, aber ich möchte den Sternhimmel einfach ohne Hilfsmittel auf mich wirken lassen, so wie ihn Menschen schon seit Jahrtausenden gesehen haben.
Fragen steigen in mir auf: Wie groß mag das Universum wohl sein? Und wie viel Sterne beherbergt es? Gibt es noch Leben da draußen oder sind wir nur »Zigeuner am Rande des Universums«, wie Jaques Monod es einmal formulierte? Mag sich mancher einsam und verloren vorkommen angesichts der Größe des Alls, in mir steigt eher ein Gefühl der Faszination und Anbetung gegenüber dem auf, der das alles geschaffen hat.
So überwältigt war wohl auch der Psalmist, als er sein Loblied verfasst und gebetet hat. In mehreren Strophen ruft er zum Lob Gottes auf und lässt – gleich anbrandenden Wellen am Ufer des Meeres – die Begründungen dafür folgen. Sein Lob umfasst den Mikrokosmos eines zerbrochenen Herzens, das Gott heilt, genauso wie den Makrokosmos eines unermesslichen Alls mit seinen unzähligen Himmelskörpern. Von Gott bekennt er: Er zählt die Sterne und nennt sie alle mit Namen.
Freilich hat der Beter damals noch nicht wissen können wie groß das All in Wirklichkeit ist. Während wir von der Erde aus mit bloßem Auge nur 6.000 Sterne unserer Milchstraße sehen, gibt es tatsächlich 100 Milliarden Galaxien mit jeweils 150 Milliarden Sternen! Allein unsere Milchstraße in ihrer weitesten Ausdehnung von einem Ende zum anderen mit Lichtgeschwindigkeit, d. h. 300.000 km/s, zu durchqueren, würde 100.000 Jahre in Anspruch nehmen!
Wer wollte angesichts dieser Dimensionen nicht staunen und das Lob Gottes anstimmen? Immanuel Kant drückte es einmal so aus: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.
Was nun das Lob in Psalm 147 so speziell macht, ist nicht nur die Anbetung eines mächtigen und weisen Schöpfergottes, sondern die Einsicht, dass dieser Schöpfergott zugleich der Retter und Befreier seines Volkes ist. Während Letzteres seit dem Auszug aus Ägypten die eigentliche Urerfahrung Israels darstellt, aus der später auf Gott, den Schöpfer, geschlossen wurde, so hilft in der exilisch-nachexilischen Zeit, aus welcher der Psalm wahrscheinlich stammt, wiederum der Glaube an den Schöpfer ihm auch als Befreier und Retter neu zu vertrauen: Wie er das All gemacht hat und in seinen Händen hält, so auch die Geschicke seines Volkes und darüber hinaus eines jeden einzelnen Menschen und Geschöpfes.
Mit Israel bekennen wir Gottes Walten in Schöpfung und Geschichte. Als Schöpfer des Universums und der Erde ist er zugleich der, welcher Jerusalem wieder aufbaut, sein Volk erneut sammelt und seine Wunden verbindet. Ja, das Lob Gottes hat in diesem Psalm nicht nur erbaulichen, sondern geradezu subversiven Charakter: Gott sorgt für Gerechtigkeit, indem er die Elenden aufrichtet und den Mächtigen widersteht. So gesehen kann selbst ein so schlichtes Kinderlied wie »Weißt du wie viel Sternlein stehen«, das ich unter der Sternwartenkuppel vor mich hin summe, zum Trostlied für Geplagte und zur Kampfansage an die Herrschenden werden.
Entnommen aus »unterwegs« 06/2017
Korrektur: 21.03.2017, 07:14 Uhr: Fälschlicherweise wurde im Teaser der Bibelvers 1. Korinther 13,12b genannt. Korrekt ist aber die Angabe Psalm 147,1-5