Auf litauischem Boden Von John Calhoun  | 

Friedensgespräche zwischen Ukrainern und Russen

Ukrainische und russische Methodisten auf dem »Hügel der Kreuze« in Litauen
Ukrainische und russische Methodisten auf dem »Hügel der Kreuze« in Litauen
Bildnachweis: EmK Eurasien
Die EmK in Eurasien organisierte ukrainisch-russische Friedensgespräche mit Teilnehmern aus EmK-Gemeinden beider Länder.
8 Minuten

Mehr als drei Jahre sind vergangen, seit im Herzen Osteuropas ein bewaffneter Konflikt ausbrach. Im Februar 2014 wurde die ukrainische Hauptstadt Kiew von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei erschüttert. Mehr als 100 Menschen verloren ihr Leben; viele weitere wurden verletzt. Die Unruhen veranlassten den damaligen Präsidenten Viktor Yanukovich zur Flucht, was zu einer Neuwahl der Regierung führte. Noch im gleichen Monat marschierten russische Truppen auf der ukrainischen Halbinsel Krim ein und übernahmen schnell die Kontrolle über die Regierungsgebäude. Im März 2014 wurde die Krim-Halbinsel zum russischen Territorium erklärt. Einen Monat später begannen Aufständische im Osten der Ukraine, unterstützt von russischen Militärs, gegen die ukrainischen Behörden in der Gegend von Donezk und Luhansk vorzugehen.

Irgendwie überleben in einem vergessenen Konflikt

Nach einem Bericht der Vereinten Nationen vom März 2017 wurden seit Beginn des Konflikts in der Ost-Ukraine mehr als 9.900 Menschen umgebracht, und mehr als 23.000 Menschen erlitten Verletzungen. Und wenn dieses Gebiet auch aus den Schlagzeilen der internationalen Medien verschwunden ist – der Konflikt dauert nach wie vor an. Entlang der Linie, welche die ukrainische Armee von separatistischen Milizen trennt, verlieren jeden Monat Dutzende ihr Leben. Ukrainische Bürger, welche die Mittel haben, um aus dem Konfliktgebiet zu fliehen, suchen entweder in anderen Regionen ihrer Heimat oder in Nachbarländern Zuflucht. Die Verletzlichsten aber – Menschen, die alt oder körperlich behindert sind, und Menschen, die in Armut leben – haben keine andere Wahl als in ihren Häusern zu bleiben und darauf zu hoffen, dass sie die anhaltenden Auseinandersetzungen irgendwie überleben.

Missverständnisse und Misstrauen

Diese humanitäre Krise wirkt sich nicht nur auf jene aus, die direkt in der Konfliktzone in der Ost-Ukraine leben. Verschiedene Quellen belegen, dass mehr als eine Million Menschen geflohen sind. Egal, ob sie in anderen Regionen des Landes oder in benachbarten Gebieten leben: Sie verbrauchen einen Teil der Ressourcen der Familien und Gemeinschaften, die ihnen Zuflucht gewähren. Sowohl die ukrainische als auch die russische Wirtschaft schrumpfte in den letzten drei Jahren, und die Währungen beider Länder verloren an Wert. Viele Soldaten der Ukraine und Russlands starben. Propaganda und Falschinformationen in staatlich kontrollierten Medien verursachen Verwirrung, Missverständnisse und Misstrauen zwischen ukrainischen und russischen Staatsangehörigen.

Auch die Gemeinden der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK) beider Länder sind betroffen. Eine Gemeinde in der ostukrainischen Stadt Luhansk löste sich auf, als die Kämpfe über die Stadt rollten und die Mitglieder in andere Gegenden fliehen mussten. EmK-Gemeinden in der Ukraine und in West-Russland organisierten Nothilfe und seelsorgerliche Begleitung für diese vertriebenen Menschen. Gleichzeitig standen Menschen der EmK in beiden Ländern an der Seite jener, die trauerten – über den Verlust so vieler Menschenleben, über die Trennung von Familien, über das wachsende Gefühl der Verzweiflung.

Aktive Schritte für einen friedlichen Dialog

Eduard Khegay, Bischof der EmK in Eurasien und damit auch in Russland und der Ukraine, kennt den Schmerz und die Angst vieler Menschen seines Bischofsgebiets. Anlässlich von Gemeindebesuchen in den betroffenen Gebieten sah er mit eigenen Augen, welche Auswirkungen Krieg und Vertreibungen auf Familien und Gemeinden haben. Er hörte, wie Hauptamtliche und Laien ihre Frustration darüber zum Ausdruck brachten, dass es den politischen Führern nicht gelingt, eine friedliche Lösung zu finden. Gleichzeitig nahm er aber auch wahr, wie stark verbreitet der Wunsch ist, Brücken des Friedens zu bauen – zusammen mit Glaubensgeschwistern auf der anderen Seite der Trennungslinie.

Um Versöhnung und Heilung zu fördern, veranstaltete Bischof Khegay vor zwei Wochen, vom 31. Mai bis zum 5. Juni, Friedensgespräche für Menschen der EmK aus der Ukraine und aus Russland. Zehn Vertreter jedes Landes, Pastoren und Laien, reisten ins litauische Birštonas, um eine Zeit der Gemeinschaft, des Nachdenkens, gottesdienstlicher Feiern und des Gebets zu erleben. In seinem Einladungsschreiben formulierte Bischof Khegay seine Hoffnung für dieses Treffen wie folgt: »Als Christen und als Glieder der Evangelisch-methodistischen Kirche in Eurasien sind wir aufgerufen, aktive Schritte im Hinblick auf einen friedlichen Dialog zu tun und uns für gute Beziehungen, Heilung und Versöhnung einzusetzen. Ich glaube, dass die Gnade unseres Herrn Jesus Christus die Kraft hat, unsere Beziehungen zu erneuern und unsere Nationen zu segnen.«

Während des fünftägigen Treffens beteiligten sich die Delegierten an offenen und ehrlichen Diskussionen über den Konflikt, der die Region gespalten hat. Sie empfingen den Ruf, als Botschafter des Friedens und der Versöhnung zu wirken. Daneben standen drei inhaltliche Schwerpunkte im Zentrum: (1) Die Untersuchung, wie christliche Gemeinschaften in anderen Konflikt- und Nach-Konflikt-Situationen zu Frieden und Versöhnung beigetragen haben, (2) die Bekämpfung von Trugbildern und Missverständnissen, die weiterhin den gegenwärtigen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland befeuern und (3) die Benennung spezifischer Aktivitäten, die es Leitungspersonen und Gemeinden der EmK in beiden Ländern ermöglichen, sich für Frieden, Versöhnung und Liebe einzusetzen.

Lernen aus der Geschichte, der Bibel und der Philosophie

Am Eröffnungstag hielt Bischof Khegay zwei Vorträge über die zentrale Rolle, die christliche Führungspersönlichkeiten und Gemeinschaften im Hinblick auf die Heilung von durch Gewalt und Konflikte zerrissenen Gesellschaften gespielt haben. Er unterstrich dabei den prophetischen und seelsorgerlichen Dienst von Erzbischof Desmond Tutu in Südafrika. Nach dem Ende des dortigen Apartheid-Regimes und der Wahl Nelson Mandelas zum Präsidenten wurde Erzbischof Tutu zum Vorsitzenden der Kommission für Wahrheit und Versöhnung in Südafrika ernannt. Unter seiner Leitung ermöglichte die Kommission Opfern von Gewalt, die Wahrheit ihres Leidens und ihrer Unterdrückung ans Licht zu bringen. Gleichzeitig suchte die Kommission nach Möglichkeiten, durch öffentliche Akte der Buße und Vergebung zu einer gesellschaftlichen Versöhnung beizutragen. Bischof Khegay erinnerte in seinen Ausführungen auch an Mose, der beauftragt wurde, Gottes Volk aus Ägypten zu führen: »Wie Mose sind wir dazu berufen, inmitten einer politischen Krise als geistliche Führungspersönlichkeiten zu wirken und uns für Liebe und Versöhnung einzusetzen.«

Die Bibelarbeiten wurden vom Superintendenten des Ukraine-Distrikts, Vasily Vuksta, und der Superintendentin des Distrikts Moskau, Irina Margulis, gehalten. Vuksta wies darauf hin, dass viele Menschen der EmK in der Ukraine Angehörige und Freunde in Russland hätten. Als Folge des anhaltenden Konflikts zwischen den beiden Ländern hätten sich diese grenzüberschreitenden Beziehungen so verschlechtert, dass viele Menschen in der Ukraine nicht mehr mit ihren Freunden jenseits der Grenze sprächen. »Jesus aber hatte viele Gelegenheiten, die Beziehungen zu jenen abzubrechen, die sich gegen ihn wandten, zum Beispiel in der Begegnung mit der Frau aus Samarien«, beschrieb Vuksta das Erleben Jesu. Doch habe Jesus nie aufgehört, andere Menschen in seine Liebe einzuschließen. »Deshalb«, so Vuksta mit Verweis auf Apostelgeschichte Kapitel 1, »sind wir berufen, das Evangelium an alle Menschen weiterzugeben. Egal, wo sie sind. Egal, ob sie für oder gegen uns sind.«

Vukstas Moskauer Kollegin, Irina Margulis, erinnerte an den Philosophen Viktor Frankl, der einmal schrieb: »Zwischen einem Reiz und einer Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir es in der Hand, unsere Reaktion zu wählen.« Margulis plädierte sehr für eine Reaktion der Versöhnung und Liebe. Im Wissen um die vom gegenwärtigen Konflikt verursachten Schmerzen und Wunden ermutigte sie dazu, dem Rat von Augustinus zu folgen: »Vergebt einander, damit Wut sich nicht zu Hass auswächst.«

»Wenn wir uns anders verhalten, können wir die Welt verändern«

Immer wieder trafen sich die Teilnehmer in Kleingruppen, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und über die Lebensperspektiven in ihren jeweiligen Ländern während dieses Konflikts zu berichten. Viele der Teilnehmer erkannten in den Gesprächen, wie sehr die propagandistischen Kampagnen in traditionellen und sozialen Medien ihre Sicht auf das jeweilige Gegenüber negativ geprägt hatten. »Als ich zu diesem Treffen kam, fragte ich mich, wie ich wohl mit den Delegierten aus der Ukraine zurechtkommen würde«, bekannte ein Laie aus Russland. Als Folge des Konflikts hatte er viele Beziehungen zu Freunden und alten Schulkollegen abgebrochen – einfach, weil sie jetzt in der Ukraine leben. »Aber dieses Treffen half mir, das Leben in der Ukraine besser zu verstehen. Es war für mich ein Segen, diese grenzüberschreitende Gemeinschaft zu erleben. Möge Gott mit uns allen sein.« Ein Pastor aus der Ukraine hörte zum ersten Mal, dass methodistische Geschwister in Russland für die EmK in der Ukraine beten würden – und das erfüllte ihn mit Dankbarkeit: »Freunde in Russland, vielen Dank für eure Unterstützung. Die Liebe überwindet alles!« Eine Person aus der West-Ukraine bekannte ein Gefühl der Schuld: »Die Menschen in der Ost-Ukraine tun mir leid, aber bisher betraf mich der Konflikt nur indirekt. Diese Friedensgespräche führten mich dazu, Gott zu bitten, mir und anderen Menschen eine größere Betroffenheit zu schenken, denn ich glaube: Wenn wir uns anders verhalten, können wir die Welt verändern.«

Ein Mahnmal für Frieden und Versöhnung: der »Hügel der Kreuze«

Die Notwendigkeit, sich für Frieden und Versöhnung einzusetzen, wurde durch einen Ausflug zum »Hügel der Kreuze« in Nord-Litauen verstärkt. Während Jahrhunderten hatten Menschen aus Litauen hier Kreuze aufgerichtet, um jene zu ehren, denen wegen ihres christlichen Glaubens ein ordentliches Begräbnis verweigert worden war – oder um in Zeiten religiöser Unterdrückung ihren eigenen Glauben zu bezeugen. Während des Ausflugs zu dieser heiligen Stätte beteten die Teilnehmenden für ein Ende des Konflikts, für Versöhnung zwischen den Völkern und für den Mut zum Einsatz für den Frieden. Bischof Khegay und andere Leitungspersönlichkeiten der Kirche fügten zu den geschätzten 200.000 Kreuzen ein weiteres Kreuz hinzu, um auf diese Weise ihren Einsatz für Frieden zu bezeugen.

Aufruf, Friedensstifter zu sein

Gegen Ende des Treffens in Litauen verabschiedeten die Teilnehmer einen Aufruf – als Selbstverpflichtung und als Ermutigung für andere – sich auf die biblischen Werte zu besinnen, »Friedensstifter zu sein und sich in den Beziehungen zwischen Ukrainern und Russen um Vergebung, Heilung, Versöhnung und geistliche Einheit zu bemühen«. Zusätzlich schlugen die Teilnehmer im Zusammenhang mit diesem Aufruf eine Reihe konkreter und praktischer Schritte vor. Beispielsweise sollen methodistische Gemeindeglieder aus Russland und der Ukraine eingeladen werden, um bei regionalen missionarische Initiativen zusammenzuarbeiten. Außerdem soll eine Liturgie in ukrainischer und russischer Sprache für gemeinsame Gottesdienste entwickelt werden und es soll ein Studienkurs »Versöhnung« am Theologischen Seminar der EmK in Moskau angeboten werden. Weitere Vorschläge sind die Durchführung von Gebetstreffen für Frieden und Versöhnung während der vorösterlichen Fastenzeit, während des Advents und während anderer Zeiten des Jahres sowie die Organisation von Treffen für Jugendliche beider Länder mit den inhaltlichen Schwerpunkten Bibelarbeit, Gemeinschaft und Sport.

Bevor die Teilnehmer der Friedensgespräche den Heimweg antraten, segneten sie sich gegenseitig und baten Gott um Kraft, um in einer aufgewühlten Welt das Evangelium zu bezeugen, für Versöhnung zu arbeiten und Friedensstifter zu sein.

Dank für internationale Unterstützung

Bischof Khegay äußerte seine Dankbarkeit gegenüber der EmK in Deutschland und in Mittel- und Südeuropa sowie gegenüber dem internationalen Missions- und Hilfswerk der Evangelisch-methodistischen Kirche (General Board of Global Ministries) und der internationalen Kommission für diakonische und gesellschaftspolitische Verantwortung (General Board of Church and Society) für deren finanzielle und geistliche Unterstützung dieser Friedensgespräche. Ein besonderer Dank galt dem Distrikt Litauen des Bischofsgebiets Nordeuropa/Baltikum für die großzügige Gastfreundschaft. »Wir danken Gott für unsere Freunde der weltweiten methodistischen Familie, die uns im Gebet getragen haben. Ich bitte die Menschen der EmK rund um den Globus, für ein Ende des Konflikts in der Ost-Ukraine, für das Wohl der Menschen in der Ukraine und in Russland sowie für das geistliche Wachstum der EmK in Eurasien zu beten.«

Der Autor

John Calhoun ist Pastor der EmK aus den USA und arbeitet als Missionar des internationalen Missions- und Hilfswerks der EmK in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Der Beitrag wurde übersetzt von Urs Schweizer. Dieser arbeitet in Zürich als Assistent des Bischofs der Zentralkonferenz Mittel- und Südeuropa der Evangelisch-methodistischen Kirche. Kontakt: oeffentlichkeitsarbeit(at)emk.de.