Musikalisches Schutzschild Von Claudia Krenzlin  | 

Wenn die Wörter fehlen, bleiben Lieder

»Singen ist Atemholen für das Leben« steht auf einer der Ausgaben des EmK-Gesangbuchs.
»Singen ist Atemholen für das Leben« steht auf einer der Ausgaben des EmK-Gesangbuchs. Diese Aussage beschreibt trefflich den tief verankerten Reichtum, den verinnerlichtes Liedgut entfalten kann.
Bildnachweis: Klaus Ulrich Ruof, EmK-Öffentlichkeitsarbeit
Wie Kinder ungeniert singen, Demente berührt sind und Chorgesang Gänsehaut verursacht, schildert ein Artikel im EmK-Magazin »Unterwegs«.
3 Minuten

Als Kind stellte ich mir die Frage, was ich wählen würde, wenn ich auf Sprechen, Hören oder Sehen verzichten müsste. Nie hätte ich mich für das Hören entschieden: Der Gedanke, keinen Vogel singen, kein Kind lachen, keine Musik hören zu können, war mir unerträglich; ebenso die Vorstellung, in Dunkelheit leben zu müssen, ohne Farben, Sonne, Aussichten. Das Sprechen hätte ich geopfert, aber dazu gehört auch das Singen. Nun, ich bin froh, dass ich auf keine der drei Fähigkeiten verzichten muss; auch wenn ich Menschen begegnen durfte, die trotz Blindheit Erfüllung fanden; die trotz Taubstummheit mit Gaben gesegnet waren, an denen es mir zuhauf fehlt.

Ein Schlaflied nährt Gottvertrauen

An welches Lied Ihrer Kindheit erinnern Sie sich? Wir hatten eine Spieluhr, welche die Nacht einläutete: »Guten Abend, gut Nacht! Mit Rosen bedacht, mit Nelklein besteckt, schlupf unter die Deck! Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.« Vielleicht legte dieses Lied den Grundstein für mein Gottvertrauen, das auch nicht frei ist von Ängsten, mich aber immer wieder rettet.

»Lassen Sie die Kinder doch«

Im übervollen Stadtbus zur besten Berufsverkehrszeit versuchte ich meine drei Jungs, damals Kindergartenkinder, im Blick zu behalten. Zu hören waren sie ja immer, mit Unterhaltungen wie zum Beispiel: »Eric, hör auf zu popeln!« – »Aber ich esse sie ja nicht!« oder: »Mutti, können wir zu Hause ›Schneewittchen und Rosenkohl‹ gucken?« Plötzlich begann Eric zu singen: »Bleibe bei mir, guter Gott, heut’ den ganzen Tag, halt die Hände über mich, was auch kommen mag ...« Ich spürte, wie mein Gesicht die Farbe von Rotkohl annahm und hielt flehend den Finger vor den Mund. Eric lachte, ich atmete durch, da tönte der große Bruder: »Herr, mein Gott, ich will dir danken, dass ich wunderbar gemacht bin.« »Psst, Schluss jetzt!«, zischte ich und überlegte, ob das ein Grund sei, die Notbremse zu ziehen. Um mich herum amüsierte Gesichter. »Ach, lassen Sie die Kinder doch«, sagte ein älterer Mann zu mir, »seien Sie froh, wenn sie solche Lieder mit ins Leben nehmen. Wissen Sie, wenn einem die Wörter fehlen – aus übergroßer Freude oder in entsetzlicher Angst – dann bleiben immer noch die Lieder.«

Melodien und Texte wie ein Schutzschild

Oft habe ich an diese Aussage gedacht: als ich am Gipfelkreuz ankam und ein »Halleluja« ins Tal schmetterte; als ich die Hand meiner altersdementen Hanna hielt, die mich nur noch selten erkannte, und mit ihr »Der Mond ist aufgegangen« sang. In diese Reihe passt auch die Gänsehaut beim »Lacrimosa« aus Mozarts Requiem, welches ich im Chor sang – ein Stück, das uns auf seltene Weise verband. Wie ein Schutzschild waren mir in kummervollen Zeiten Melodie und Text von »Wer nur den lieben Gott lässt walten«; und wie berührt war ich, als die brüchigen Stimmen der Heimbewohner zur Aussegnung meiner Großmutter »Geh aus mein Herz und suche Freud« ertönen ließen.

Lieder breiten Licht in uns aus

Ab und zu frage ich meine Jungs, die inzwischen junge Männer sind, wie es ihnen geht. Dann schmunzelt Eric, muskelbepackter American-Football-Spieler, zwickt mich in den Arm und singt: »Wir werden immer größer, jeden Tag ein Stück.« Da weiß ich, dass es ihm gut geht. – »Singet dem Herrn ein neues Lied!« – eine schönere Aufforderung kann es gar nicht geben, um zu loben, zu danken, zu trauern und zu trösten – und jedes Lied kann jeden Tag ein neues Licht in uns ausbreiten. Bewahren wir uns diesen Schatz an Lebensliedern und stimmen wir ein: »Herr, mein Gott, ich will dir danken, dass ich wunderbar gemacht bin!« – Es muss ja nicht unbedingt im Bus sein.

Die Autorin

Claudia Krenzlin arbeitet als Verwaltungsangestellte und ist Autorin. Sie lebt in Leipzig. Kontakt. redaktion(at)emk.de

Zur Information

Dieser Artikel ist zuerst im EmK-Magazin »Unterwegs« 9/2018 vom 29. April 2018 erschienen