Vereinfachung statt Komplexität Von Kirsten Dietrich  | 

Der geheime Plan

Moderne Verschwörungstheorien unterstellen, dass Mitglieder der US-Regierung und andere Geheimzirkel die wirklichen Auftraggeber der Anschläge vom 11. September 2001 seien.
Moderne Verschwörungstheorien unterstellen, dass Mitglieder der US-Regierung und andere Geheimzirkel die wirklichen Auftraggeber der Anschläge vom 11. September 2001 seien. Im Bild: Aufräumarbeiten in den Trümmern des World Trade Centers im September 2001. Ein New Yorker Feuerwehrmann ruft nach weiteren Bergungshelfern.
In Umbruchszeiten haben Verschwörungstheorien Konjunktur. Ein Artikel des Kirchenmagazins »unterwegs« gibt Einblick.
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Schon gewusst? Die wichtigsten Politiker sind eigentlich reptilienähnliche Außerirdische, durch die wir beherrscht werden. Diese Theorie fällt wohl für die meisten schnell in die Rubrik »absurd«. Und wie wäre es hiermit: Hinter dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 stand eigentlich der CIA, statt durch in die Gebäude geflogene Flugzeuge starben Tausende durch gezielte Sprengungen – da wird es schon schwieriger. Erstaunlich viele glauben daran, dass nicht alles aufgeklärt ist an dem Anschlag, auch wenn nur wenige wirklich überzeugt sind, dass dunkle Mächte im Hintergrund die Strippen ziehen.

Egal, was das genaue Thema ist, Verschwörungstheorien und ihre Vertreter eint eine Überzeugung: Dass nämlich hinter scheinbar zufälligen Ereignissen ein geheimer Plan stehe. Eine geheime, kaum zu fassende Gruppe ziehe die Fäden und steuere das Weltgeschehen. Nur sie, die Verschwörungstheoretiker, hätten diesen Plan erkannt. »Man denkt, man weiß Geheimnisse über die Menschheit, die vor den meisten anderen verborgen sind«, sagt Stephanie Wittschier. Sie glaubte lange Zeit an sogenannte Chemtrails, also daran, dass die Kondensstreifen von Flugzeugen eigentlich Giftstoffe seien. Geheime Mächtige versprühten sie, um die Bevölkerung dumm zu halten.

Die wirksamste Verschwörungstheorie: Antisemitismus

Sind alle, die sich an solchen Spekulationen beteiligen, tendenziell rechte Spinner? Sicher nicht. Sind Verschwörungstheorien damit eine harmlose Form unter vielen, sich in einer immer unübersichtlicheren Welt zurechtzufinden? Das sicher auch nicht. Das zeigt ein Blick auf die Wirkungsgeschichte der heute wohl am weitesten verbreiteten und wirksamsten Verschwörungstheorie, der sogenannten »Protokolle der Weisen von Zion«. Entstanden aus verschiedenen Quellen ab Mitte des 19. Jahrhunderts, schildert der Text ein – trotz des »Protokolls« im Titel – vollkommen erfundenes Treffen jüdischer Oberhäupter auf einem Friedhof in Prag, bei dem diese einen Plan zur Beherrschung der Welt in Kraft setzen. Obwohl die Protokolle schon früh als Fälschung und Mischung verschiedener Ausgangstexte bewiesen wurden, hat das an ihrer Wirksamkeit nichts geändert. Bis heute wird Judenfeindschaft unter anderem mit dieser Schrift begründet. Harmlos ist daran nichts.

Das Ziel: Abwehr der Moderne

Verschwörungstheorien gibt es in verwirrender Vielfalt – kein Bereich des Lebens scheint ausgenommen, kein aktuelles Geschehen, vom Flugzeugabsturz bis zur Migrationspolitik. »Man geht in der Wissenschaft davon aus, dass Verschwörungserzählungen gerade im Umfeld von Krisen oder empfundenen Krisen Anwendung finden«, sagt Jan Rathje, der für die Amadeu-Antonio-Stiftung die Entwicklung von politischen Verschwörungserzählungen beobachtet. Verschwörungstheorien blühen in Umbruchszeiten. Die Quellen der schon erwähnten antisemitischen »Protokolle der Weisen von Zion« entstanden, als Juden und Jüdinnen mit ihrer beginnenden Emanzipation Teilhabe an Bürgerrechten gewannen, also wirkliche Veränderung in Kraft gesetzt wurde.

Denn Verschwörungstheorien sind politisch selten neutral. Sie teilen meist eine bestimmte Stoßrichtung miteinander, nämlich die Abwehr von Moderne. Das war schon in ihrer Blütezeit während und nach der Französischen Revolution so. Das gilt auch heute, wenn sogenannte »Reichsbürger« die Existenz einer demokratischen Bundesrepublik verneinen oder rechte Ideologen vom Austausch der einheimischen Bevölkerung durch zugewanderte Muslime fabulieren. Echte negative, aber auch nur als negativ empfundene Seiten von Modernisierungsprozessen werden dann in verschwörerische Erzählungen eingebettet, sagt der Politikwissenschaftler Jan Rathje, »indem man sagt: Eigentlich ist die Moderne eine Verschwörung gegen die natürliche Weltordnung.«

Fast wie eine Religion

Zwar lassen sich Verschwörungstheorien nicht beweisen. Dummerweise lassen sie sich aber, auch wenn die Inhalte noch so absurd erscheinen, als Theorien gar nicht so leicht widerlegen. »Wir vereinfachen in Theorien immer, damit wir komplexe Wirklichkeit abbilden können«, sagt Karl Hepfer, der als Philosoph danach fragt, wie Verschwörungstheorien funktionieren. »Alle Theorien bestehen aus einem System von Sätzen, die aufeinander verweisen und sich gegenseitig stützen, und sie sollen uns Antworten auf bestimmte Fragen geben. Diese Kriterien erfüllen Verschwörungstheorien, wenn sie gut gemacht sind, in aller Regel durchaus.« Und um die erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten noch größer zu machen, gibt und gab es ja auch tatsächlich Verschwörungen, sei das nun die Regelung der Thronfolge in ihrem Sinne oder das unerlaubte Abfangen von Daten. Allerdings wurden solche Verschwörungen fast immer durch Whistleblower oder Journalisten und Journalistinnen aufgeklärt, nicht etwa durch Verschwörungstheorien.

Widerlegen lassen sich die Verschwörungserzählungen nicht durch inhaltliche Fakten. Denn wer an diese Theorien glaubt, wertet fehlende Beweise sowieso als Beleg dafür, dass die Mächte im Hintergrund offensichtlich erfolgreich arbeiten. Erfolgversprechender ist der Blick auf die Argumentationsstruktur, auf Zirkelschlüsse oder heimlichen Wechsel der Ebenen zum Beispiel. »Verschwörungstheorien benehmen sich wie dogmatische Theorien, die von einem Grundsatz loslaufen und diesen Grundsatz auf keinen Fall in Frage stellen, egal was die Erfahrung dazu sagt.« So beschreibt das der Philosoph Karl Hepfer. Und kommt zu einem unangenehmen Schluss: »So ähnliche Ansätze gibt es häufig auch in der Religion.«

Die Elite der Wissenden

Bleibt die Frage: Warum überhaupt sind Verschwörungstheorien für so viele attraktiv? Die Nähe zu religiöser Theoriebildung führt auf eine wichtige Spur: Verschwörungstheorien stiften Sinn. Nur eben: zu viel Sinn. Wer in der Welt überall die Illuminati am Werke sieht, schläft vielleicht nicht beruhigter, aber er oder sie hat zumindest eine persönlich überzeugende Erklärung. Das führt auch dazu, dass viele bei einer Theorie einsteigen – im Moment vor allem über den Glauben an die Chemtrails, der so gut zur Sorge um ein gesundes Leben passt – aber dann immer tiefer eintauchen.

Da alle Verschwörungstheorien nach dem gleichen Prinzip funktionieren, ergänzen sie sich gegenseitig aufs Wunderbarste. »Man fühlt sich wichtig und dazu berufen, die ›Weisheit‹, die man ja durch die Verschwörungsideologien erlangt hat, weiter zu verbreiten und auch die anderen Menschen zu ›erwecken‹ und dann gemeinsam mit ihnen etwas gegen die gemeinen Machenschaften der ›Elite‹ zu tun« – so erklärt die ehemalige Verschwörungsgläubige Stephanie Wittschier den Mechanismus.

In Zeiten des Internets wird dieses Verknüpfen ganz konkret. Denn wo früher Verschwörungsgläubige eher vereinzelt ihren Theorien nachhingen, genügt heute das richtige Schlagwort auf Google: Und schon sind da nicht nur Erklärungen für das nagende Gefühl, dass etwas nicht richtig läuft in der Welt, sondern dazu noch Gleichgesinnte. Dabei ist nicht unbedingt die absolute Zahl der Verschwörungsgläubigen gestiegen, sie sind nur sichtbarer geworden. Und Thesen, die immer wieder auftauchen, bekommen eben allein durch diese Menge Gewicht, ganz unabhängig vom Inhalt.

Aus Gerüchten wird reale Gewalt

Sind Verschwörungstheorien gefährlich? Das ist wahrscheinlich die entscheidende Frage. Im Oktober 2016 erschoss ein Mann, der sich den sogenannten Reichsbürgern zugehörig fühlte, einen Polizisten bei einer Hausdurchsuchung. Juden und Jüdinnen können über die Jahrhunderte erzählen, wie aus Gerüchten und Verschwörungsmythen reale Gewalt werden kann. Kann, nicht muss.

Ein wichtiges Unterscheidungskriterium ist, ob sich die Verschwörungstheorie gegen Mächtige oder gegen Minderheiten richtet. Wie der Amerikanist Michael Butter in seiner Untersuchung schreibt: Angela Merkel kann es egal sein, ob manche sie für ein reptiloides Alien halten, Geflüchteten dagegen nicht, wenn ihnen als Agenten eines angeblichen »großen Austauschs« Misstrauen entgegenschlägt.

Bildnachweis: Wikimedia Commons / Walt Cisco / gemeinfrei
Dieser Artikel ist dem zweiwöchentlich erscheinenden Magazin »unterwegs« der Evangelisch-methodistischen Kirche – Nummer 4/2020 vom 16. Februar 2020 – entnommen.


Die Autorin
Kirsten Dietrich ist evangelische Theologin und Radiojournalistin. Kontakt über: redaktion(at)emk.de.