Aus der Geschichte lernen Von Marlies Machnik-Schlarb  | 

»Wie Menschen entwürdigt wurden, bleibt unfassbar«

Der Güterwagen erinnert in Auschwitz an die Deportation von Millionen Menschen in den Tod. Die Reisegruppe legte hier Rosen und Grablichter ab.
Der Güterwagen erinnert in Auschwitz an die Deportation von Millionen Menschen in den Tod. Die Reisegruppe legte hier Rosen und Grablichter ab.
Unter der Leitung von Leonore Dieke und den Pastoren Bernt Förster und Friedbert Fröhlich besuchte eine Gruppe von elf Personen im November 2019 Auschwitz.
4 Minuten

Bei einer Führung im Schindler-Museum in Krakau wurde uns erneut bewusst, dass Krakau bei Kriegsbeginn nach nur knapp zwei Wochen, Mitte September 1939, in allen Bereichen des öffentlichen Lebens von den Deutschen eingenommen worden war. Ziel war, das Land Polen zu »säubern«, zu liquidieren, um dort dann Deutsche anzusiedeln. Bald mussten die jüdischen Krakauer in einen Stadtteil umziehen, der zum Ghetto deklariert wurde. Mit den Grabsteinen von ihrem jüdischen Friedhof mussten sie die Grenzmauer um das Ghetto errichten. Das Museum zeigt die Geschichte und das Leid der polnischen Bürger und eben auch, dass Schindler, auf Grund seiner Position, viele jüdische Polen in seinem Betrieb beschäftigte und sie sogar aus Birkenau befreien konnte, damit sein Betrieb profitabel für das Reich weiter arbeiten konnte.

Am Volkstrauertag in Auschwitz

Vormittags wurden wir durch eine junge Polin durch das Stammlager Auschwitz geführt, die uns mit viel Fachwissen vom Leben erzählte, von den schrecklichen Zuständen, unter denen damals polnische Intellektuelle, Kriegsgefangene der UdSSR, Roma und natürlich viele Juden aus ganz Europa leiden mussten. Alles mussten die Menschen abgeben: Kleidung und Schuhe. Nichts Persönliches durften sie behalten, nicht mal ein Foto. Gerade im Stammlager wurden viele medizinische Versuche an Menschen vorgenommen, die ihre Gesundheit gefährdeten und auch zum Tode führten. Von Beginn an wurden sie auf solche Kost gesetzt, die dazu führte, dass sie abmagerten, und mussten trotzdem hart arbeiten.

Im Stammlager haben die Länder, aus denen Menschen deportiert wurden, Ausstellungen gestaltet, in denen sie das Leben der Menschen vor dem Krieg, zu Beginn, während des Krieges und danach in zahlreichen Dokumenten darstellen. Als Gruppe begannen wir am Nachmittag in der polnischen Ausstellung. Dabei kam mir der Gedanke: An diesem Ort, an dem so viel Unheil geschah, schaffen es die Länder, beieinander zu sein – als Zeichen dafür, dass Frieden untereinander möglich ist. Am Abend trugen wir unsere Erfahrungen dieses Tages zusammen, vertrauten einander unsere Gedanken und Gefühle an.

Bei einer Führung durch das große Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau erhielten wir Informationen über die grausamen Bedingungen im Lager. Polen, die ersten Gefangenen in Birkenau, mussten das sumpfige Gelände trockenlegen und dann das Lager aufbauen. Dazu wurden ortsansässige Polen aus ihren Häusern vertrieben. Ein Teil des Baumaterials für den Bau der Baracken – erst aus Stein, später aus Holz – mussten die Gefangenen erst abbauen und dann im Lager wieder aufbauen. Selbst beim Bau der vier Krematorien wurden die Gefangenen gezwungen, mitzubauen. Wer kann sich heute schon vorstellen, dass teilweise bis zu viertausend Menschen an einem Tag vergast und verbrannt wurden.

Im Oktober 1944 gelang es dem sogenannten »Sonderkommando« – das waren jüdische Gefangene, die ihre eigenen Glaubensleute in die Gaskammern führen und nach deren Tod im Krematorium verbrennen mussten – ein Krematorium zu sprengen, unter Verlust ihres eigenen Lebens. Im Januar 1945 wurden die drei anderen Krematorien zerstört, damit nach dem Krieg, so die Hoffnung der Lagerleitung, keine Beweise mehr vorhanden wären.

Erschrecken über deutsche »Elite«

Zu hören oder zu lesen, wie schlecht die Bedingungen für die Menschen damals waren, ist das eine. Etwas völlig anderes war es für uns, die Orte zu sehen, zu betreten, wo damals eine konkrete Menschengruppe, Deutsche eben, sich als »Elite« fühlte. Sie meinte, sich über andere Menschengruppen zu stellen und sie vernichten zu können. Zu sehen, wie entwürdigend Menschen behandelt wurden, ist und bleibt unfassbar. Zum Beispiel die hygienischen Bedingungen: Waschen, wenn es überhaupt erlaubt wurde, bei Hitze und Kälte ohne Seife und ohne Handtuch. Toilettengänge von nur einer Minute zusammen mit bis zu achtzig Personen.

Umso wichtiger ist es für uns, wachsam zu sein, wenn über Menschen anderer Religionen oder Kultur schlecht geredet wird, um dann zu widersprechen. Sich zu informieren über politisch-gesellschaftliche Zusammenhänge und immer die Überzeugung haben und leben: Gott liebt in Jesus Christus alle Menschen. Wir können mit dazu beitragen, dass diese Liebe immer wieder Wirklichkeit wird.

Kunst, um nicht zur vergessen

Als Höhepunkt unserer Reise empfanden wir den Besuch einer Ausstellung des Auschwitz-Überlebenden Marian Kolodzieja, der mehrere Konzentrationslager überlebt hatte. Er studierte Kunst und arbeitete als Bühnenbildner. Erst fünfzig Jahre nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager verspürte er, ausgelöst durch einen Schlaganfall, den Drang, seine traumatischen Erlebnisse in Bildern festzuhalten, um sie bildhaft den nachkommenden Generationen als Mahnung zu hinterlassen. Er malte sich all seine traumatischen Erfahrungen von der Seele. Ihm war eine Ausstellung seiner Bilder nach seinen eigenen Vorstellungen so wichtig, dass er sie von der Konzeption bis zur Fertigstellung maßgeblich begleitete. Wir waren von den Zeichnungen und Bildern tief beeindruckt.

Uns fiel auf, dass manche Überlebende, wenn überhaupt, erst in hohem Alter ihre traumatischen Erlebnisse erzählen. Viele hatten anfänglich Ängste, dass ihnen ja doch niemand glaubt, was sie erlebt hatten. Im Alter spüren sie den Drang, mitzuteilen, was passiert war, damit es nicht in Vergessenheit gerät und um zu warnen, dass so etwas nie wieder passiert. Berührt hat uns, dass viele israelische Jugendliche Auschwitz besuchen, sich informieren und ihrer Vorfahren gedenken. Sie tun es in Andachten und gerade am Mahnmal in Birkenau, in der Nähe der Krematorien, hielten sie im Kreis eine Andacht, sangen und beteten.

Unser Rückreisetag begann früh am Morgen in Birkenau. Wir nahmen Abschied, indem wir alle je eine Rose und je ein Grablicht an einen Güterwaggon anbrachten; in solchen wurden die Menschen nach Auschwitz gebracht.

Bildnachweis: privat
Dieser Artikel ist dem EmK-Magazin »unterwegs« 4/2020 vom 16. Februar 2020 entnommen.


Die Autorin
Marlies Machnik-Schlarb ist Pastorin im Ruhestand der Evangelisch-methodistischen Kirche und lebt in Schmitten im Taunus. Kontakt über: oeffentlichkeitsarbeit(at)emk.de