Das Grundgesetz und die Kirchen
Siebzig Jahre Grundgesetz und damit siebzig Jahre Bundesrepublik Deutschland – das fällt zusammen mit: hundert Jahre Weimarer Reichsverfassung, hundert Jahre Völkerbund und siebzig Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Das sind epochale Daten, die bedeutende Fortschritte in der Bindung von Staaten an ein verfasstes Recht markieren.
Ist Deutschland ein christliches Land?
Es ist noch nicht lange her, dass in einer stark besuchten Lehrveranstaltung an der Theologischen Hochschule Reutlingen behauptet wurde, Deutschland sei ein christliches Land. Mit »Land« war hier tatsächlich »Staat« gemeint – das offenbarte der weitere Verlauf des Gesprächs. Der Behauptung wurde widersprochen mit dem Hinweis auf die grundlegende Unterscheidung zwischen Staat und Recht einerseits und Geschichte und Kultur andererseits: Jedenfalls was das Staatswesen betrifft, ist Deutschland gemäß dem Grundgesetz und seiner unstrittigen Auslegung weltanschaulich neutral, also kein christliches Land. Das wurde in dem Gespräch dann auch irgendwie eingeräumt. Trotzdem wurde die ursprüngliche Behauptung beharrlich wiederholt, insofern das Christliche eben doch einen Vorrang vor anderen Religionen haben müsse.
Interessanterweise verzeichnet eine Allensbach-Umfrage von Ende 2017 eine deutlich höhere Zustimmung zu der Aussage »Deutschland ist ein christliches Land« als eine Umfrage aus dem Jahr 2012 (63 Prozent zu 48 Prozent). Man ahnt, dass der Grund dafür in den Ereignissen des Jahres 2015 und in zunehmenden Vorbehalten gegen den Islam zu suchen ist. Im Blick auf die Ausgangsfrage jedoch sollte allen Staatsbürgern – zumal in einem freikirchlichen Kontext – klar sein, dass der Staat neutral zu sein und sich aus all diesen inhaltlichen Fragen herauszuhalten hat.
Wie steht der Staat zu den Kirchen?
Denn seit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 gilt: »Es besteht keine Staatskirche.« So heißt es im Grundgesetz (GG) Artikel 140, der die Artikel 136ff aus der Weimarer Reichsverfassung (WRV) übernimmt. Dieser Artikel wirkt übrigens bei weitem unmissverständlicher, als er tatsächlich ist: Er vermeidet den unscharfen Begriff der »Trennung von Staat und Kirche«, auf den sich die Väter und Mütter der Weimarer Reichsverfassung wohl nicht hätten einigen können. Mit diesem Artikel endete das landesherrliche Kirchenregiment und die organisatorische Selbständigkeit von Staat und Kirchen. Gleichzeitig erhielten Freikirchen den Körperschaftsstatus.
Weit weniger klar sind die Zusammenhänge von Staat und Kirche, wenn es um den schulischen Religionsunterricht geht, die theologischen Fakultäten und den Schutz christlicher Feiertage. Darf zum Beispiel am Karfreitag ein Tanz veranstaltet werden oder nicht? Auch gibt es verschiedene Auffassungen zu Kruzifixen in öffentlichen Gebäuden, was ein Freistaat gegen die Haltung der Kirchen als Kulturgut für sich in Anspruch nehmen möchte. Deutschland ist ein säkularer, aber kein laizistischer Staat wie etwa Frankreich.
Zu Recht ins Gerede gekommen sind die immensen Staatsleistungen, die seit nunmehr hundert Jahren abgelöst werden sollen (Artikel 140 GG, Artikel 138 WRV). Wird das weitere hundert Jahre auf sich warten lassen? Diese Frage stellt sich heute immer dringlicher, weil viele religiöse und weltanschauliche Vereinigungen – darunter auch atheistische – sich nicht im gleichen Recht fühlen wie christliche Kirchen. Aus diesem Grunde entwickelt sich derzeit das »Staatskirchenrecht« zu einem »Religionsverfassungsrecht«. Es passt sich damit allmählich den realen Gegebenheiten einer multireligiösen Gesellschaft an.
Religionsfreiheit ist ein Grundrecht
Im Hintergrund dieser Artikel zum Staatskirchenrecht steht das Grundrecht auf unverletzliche Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses: »Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet« (Artikel 4). Aus dem Recht, sich frei einem religiösen Glauben anschließen zu können – auch als »positive Religionsfreiheit« bezeichnet, folgt zwingend das Recht, auch keinen Glauben haben zu können. Das wäre dann die »negative Religionsfreiheit«. Allerdings folgt daraus kein Recht, von religiösem Bekenntnis verschont zu werden.
Wie kommt nun Gott in das Grundgesetz?
Anders als in allen Vorläuferverfassungen wird Gott im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland genannt: »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben«, so heißt es in der Präambel. Gott wird aber nicht angerufen wie etwa in der Schweizerischen Bundesverfassung, die mit den Worten beginnt: »Im Namen Gottes des Allmächtigen…«. Die bloße Nennung Gottes will zeigen, dass der Verfassungstext nicht letzte Wahrheiten verkündigt, sondern Menschenwerk und damit fehlbar ist. An den Rechtsgehalten ändert sich durch den sogenannten Gottesbezug gar nichts.
Wolfgang Ullmann, evangelischer Theologe und Abgeordneter der Grünen aus Sachsen, stritt Anfang der 1990er Jahre dafür, »in der Verfassung auf Gott zu verzichten – weil der da nicht hingehört«. Theodor Heuss, später der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, erwartete 1949 von der Präambel des Grundgesetzes etwas Feierliches. So kam der Gottesbezug hinein und wurde nicht mehr daraus entfernt.
Grundgesetz oder Verfassung?
Das Grundgesetz ist eigentlich ein Provisorium, etwas Vorläufiges: Weil man 1949 fürchtete, mit einer verfassunggebenden Versammlung und einem Verfassungsreferendum die Teilung Deutschlands zu zementieren, begnügte man sich mit einem »Parlamentarischen Rat« und einem »Grundgesetz«. In den Jahren nach 1990 stellte sich daher folgerichtig die Frage, ob die »neuen Länder« nach Artikel 23 beitreten sollten oder mit Artikel 146 der Prozess hin zu einer neuen Verfassung eröffnet werden sollte. Die Geschichte dieser Jahre hat ihre Antwort auf diese Frage gegeben. Wie immer man darüber denkt, es lässt sich wohl mit Recht festhalten, dass aus dem Provisorium »längst eine feste Ordnung geworden ist«, wie der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Ernst Benda gesagt hat.
In welcher Verfassung ist die Bundesrepublik Deutschland heute?
Weil Demokratie paradoxerweise mit demokratischen Mehrheiten untergraben werden kann, ist sie jederzeit gefährdet. Deshalb muss sie streitbar und wehrhaft sein. Dies war vielleicht selten von solcher Tragweite wie heute, da die unverzichtbare Mitte der Gesellschaft als fragil, gespalten, ja verloren beschrieben wird (Friedrich-Ebert-Stiftung, April 2019). Methodisten stehen in der Mitte der Gesellschaft und sind als demokratisch geübte und europaweit und global vernetzte Christen besonders herausgefordert und auch befähigt, für Demokratie und Rechtsstaat einzutreten.
Der Autor
Prof. Christof Voigt lehrt Philosophie und biblische Sprachen an der Theologischen Hochschule Reutlingen.