Den Menschen zugewandt
»Ich bereue, dass ich nicht schon früher die Vorlesungen von Jörg Barthel besucht habe«, sagte ein Zuhörer nach der Abschiedsveranstaltung am Mittwoch letzter Woche in der Reutlinger Kreuzkirche. Die Aussage weist auf die Strahlkraft hin, die von dem nun ab Oktober emeritierten Professor ausging. »Von Gott reden – aber wie? Einsichten aus dem Alten Testament« war der Titel der letzten Vorlesung, mit der sich Jörg Barthel aus seiner Tätigkeit als Professor für Altes Testament verabschiedete. Gut hundert Personen und viele weitere bei der angebotenen Internetübertragung folgten der Einladung, den langjährigen Lehrer und Erklärer alttestamentlicher Theologie noch einmal zu hören.
Überzeugt vom Konzept der THR
Im Jahr 1997 übernahm Jörg Barthel den Lehrstuhl für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Reutlingen (THR) der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK). Zwei Jahre zuvor war er mit einer Dissertation über den Propheten Jesaja zum Doktor der Theologie promoviert worden. Statt der Fortführung einer wissenschaftlichen Karriere an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen wechselte Barthel an die THR, weil ihn »das Konzept einer spirituell orientierten ›Theologie für die Praxis‹ und das geschwisterliche Miteinander« überzeugt habe. Außerdem habe ihn die interdisziplinäre Zusammenarbeit an der THR »fasziniert«, was seinen Neigungen entgegenkam.
Lehrer der Theologie mit weitem Wissenshorizont
In seiner gesamten Zeit der Lehrtätigkeit setzte Barthel diesen Ansatz in ganzer Breite um: Neben Einführungs- und Theologievorlesungen hielt er zahlreiche Vorlesungsreihen zur Auslegung des Alten Testaments und themenorientierte Seminare. Dazu kamen Veranstaltungen zur Biblischen Theologie und zur als Hermeneutik bezeichneten Lehre über die Auslegung der Bibel. Nicht selten fügte Barthel, der für seine weiten Interessen und seinen großen Wissenshorizont bekannt ist, spontane Erklärpassagen aus dieser Welt des Wissens ein. So konnte er die Gedankenwelt des Philosophen Martin Heidegger (1889-1976) in fünf Minuten zusammenfassen oder die Schwerpunkte der neueren Paulusauslegung in wenigen Sätzen auf den Punkt bringen.
Darüber hinaus verband der in Kassel geborene Alttestamentler seine Themen mit aktuellen Fragestellungen und der Wirklichkeit von Kirche und Gesellschaft. Seine Lehrveranstaltungen waren somit nicht nur informativ, sondern praxisbezogen und für den pastoralen Dienst in der Gemeinde relevant. Humorvoll und den Menschen zugewandt überbrückte der heute 66-Jährige die häufig empfundene Distanz aus dem »Elfenbeinturm der Lehre« in die praktischen Begegnungen an der Hochschule und in den Gemeinden. Im Alltag an der Hochschule hatte er für Fragen immer ein offenes Ohr und mindestens eine Tasse Kaffee Zeit für Begegnungen.
Fünf Redeweisen von Gott
Seine Abschiedsvorlesung nutzte Barthel für eine kurze Darbietung der Theologie des Alten Testaments. Im Anschluss an den französischen Philosophen Paul Ricœur (1913-2005) unterschied er in seinem Vortrag fünf Redeweisen der hebräischen Bibel. Zuerst die »Erzählung«, die als Rede über das Handeln Gottes in der Geschichte bei den Menschen, zunächst beim Volk Gottes, ein Selbstverständnis und damit Identität erzeugt. Als nächste Redeweise ist von der »Tora«, den fünf Büchern Mose, die Rede. Darin offenbart sich Gottes Wegweisung für das Leben. Drittens beschreibt »Prophetie« eine Redeweise, in der leidenschaftlich Gottes Eingreifen sowie seine Anteilnahme und sein Mitleiden zum Ausdruck kommen.
Mit der »Weisheit« und dann den »Psalmen« beschrieb Barthel zwei weitere Redeweisen, die im Alten Testament vorkommen. In der weisheitlichen Rede verbinden sich Sachverstand, Erfahrung und Lebenskunst und die Erschließung der Welt in ihrer Rätselhaftigkeit bis hin zur wissenschaftlichen Deutung. Schließlich bieten die Psalmen als direkte Rede zu Gott – und nicht mehr nur über Gott – einen unmittelbaren Zugang zu Gott, in die Lehre von Gott mit Gebet und Lobpreis miteinander verschmelzen.
Theopoesie am Strand des Lebens
Angeregt von dieser fünften Redeweise und von poetischen Gedanken Rainer Maria Rilkes (1875-1926) schloss Barthel seinen Vortrag mit dem Hinweis darauf, dass alle Rede von Gott immer vom Schweigen und alles Wissen von der Wolke des Nichtwissens umgeben ist. Oder wie Barthel es bildhaft formulierte: »Von Gott zu reden gleicht einem Gang am Strand des Meeres: Unsere Worte hinterlassen flüchtige Spuren im Sand, aber sie können das Meer in seiner unendlichen Weite nicht erfassen. Sie können bestenfalls darauf hinführen und hinweisen. Sie werden mehr Theopoesie als Theologie sein.«
Klarheit, Selbstbewusstsein und Offenheit für Neues
Wenige Stunden vor der Abschiedsvorlesung saß Jörg Barthel mit einigen Studierenden im Garten zur letzten Seminareinheit. Als er gefragt wurde, was er ihnen mit auf den Weg geben wolle, nannte er drei Dinge: Erstens die Liebe zu den biblischen Texten, zweitens den spirituellen Gehalt dieser Texte und drittens die Kunst, seinen eigenen Standpunkt selbstbewusst zu vertreten und sich gleichzeitig in Offenheit auf Neues einzulassen. Während er diese Leitgedanken auf den Punkt brachte, spielten zwei Jungs im Garten Fußball. Immer wieder rief Jörg Barthel ihre Namen und scherzte mit ihnen. Diese Szene beschreibt den scheidenden Professor: Ein Gelehrter, der den geistigen Mount Everest bestiegen hat und gleichzeitig im Tal bei den Menschen wohnt und verwurzelt ist.
Dazu passt auch eines von Barthels Vorhaben für den Ruhestand: ein allgemeinverständliches Buch unter dem Titel »Hundert Fragen an das Alte Testament, die ich schon immer stellen wollte«. Eines ist sicher: Dieses Buch wird auch außerhalb des Lehrbetriebs einer Hochschule eine wissbegierige Leserschaft finden.
In Nachfolge für den in den in den Ruhestand verabschiedeten Jörg Barthel übernimmt ab Oktober dieses Jahres Kathrin Liess den Lehrstuhl für Altes Testament. Ihre Berufung gab die Reutlinger Hochschule im Dezember vergangenen Jahres bekannt.
Die Autoren
Martin Thoms ist Absolvent im Studiengang Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen; Klaus Ulrich Ruof ist Referent für Öffentlichkeitsarbeit und Pressesprecher für die Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland mit Sitz in Frankfurt am Main. Kontakt: oeffentlichkeitsarbeit(at)emk.de.
Zur Information
Kurz-Vita Prof. em. Dr. Jörg Barthel
- 1958 geboren in Kassel
- 1980–1986 Studium der Evangelischen Theologie und der Sozialwissenschaften an den Universitäten Marburg und Tübingen
- 1986 Dr.-Leopold-Lucas-Preis für Nachwuchswissenschaftler der Eberhard-Karls-Universität Tübingen
- 1989–1995 Wissenschaftlicher Angestellter/Assistent an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen, Fachbereich Altes Testament
- 1995 Promotion zum Dr. theol.
- 1997-2024 Dozent/Professor für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Reutlingen
- 2007-2013 Rektor der Theologischen Hochschule
- 2017-2024 Prorektor für Forschung
Die Theologische Hochschule Reutlingen (THR) ist eine Einrichtung für den deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich und Schweiz) der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK). Sie ist eine staatlich anerkannte Hochschule und verleiht die staatlich und international anerkannten Studienabschlüsse Bachelor (Bachelor of Arts, B.A.) und Master (Master of Arts, M.A.) für Theologie sowie den staatlich anerkannten Master-Abschluss im Studiengang »Christliche Spiritualität« und einen staatlich anerkannten Bachelor-Abschluss im Studiengang »Soziale Arbeit und Diakonie«. Rektor der Hochschule ist Prof. Christof Voigt.