Eine Welt aus »wir« und »die«
Der Brexit wühlt im Leben Barry Sloans längst Vergangenes wieder auf. In Nordirland geboren und in der Nähe von Belfast aufgewachsen, wurde der treue Anhänger der (britischen) »Union« Pastor der Methodistischen Kirche in Irland, die sowohl in der Republik Irland als auch in Nordirland wirkt. Seit vielen Jahren lebt er in Deutschland und wird jetzt vom Brexit in seiner Lebensgeschichte eingeholt. Um in Deutschland bleiben und weiterhin ungehindert innerhalb der Europäischen Union unterwegs sein zu können, nimmt er die irische Staatsbürgerschaft an. Für einen loyalen Nordiren ein Unding. »Wenn mein Vater das wüsste, würde er sich in seinem Grab umdrehen«, erklärt Sloan als Sohn eines radikalen Unionisten die Dramatik seines Sinneswandels. In einem Blog-Beitrag lässt er seinen geläuterten Gedanken über die Bedeutung von Nationalfahnen und die wahre Treue von Christen freien Lauf.
Das tiefsitzende Denken in »wir« und »die«
»Am 31. Januar wird für mich und den Rest meiner europäischen methodistischen Familie alles mehr oder weniger so sein wie sonst«, schreibt Sloan im Verlauf seines Nachsinnens über den Brexit, über Grenzen, über nationale Treue und über das Denken in »wir« und »die«. Für Christen gehe die »wahre Treue über Ländergrenzen hinaus«. Menschen dächten in geschaffenen Grenzen und huldigten Nationalfahnen. Demgegenüber lehre Jesus, »dass jeder einzelne Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist und daher unser Bruder, unsere Schwester ist«. Der Apostel Paulus lehre, »dass unsere Staatsbürgerschaft nicht von dieser Erde ist, sondern im Himmel«. Und bei John Wesley, dem Gründer der methodistischen Bewegung, könne man lernen, »dass die ganze Welt unsere Gemeinde ist«. Deshalb werde er in seiner zwischenzeitlich mitübernommenen Funktion als Partnerschafts-Koordinator der Methodistischen Kirche in Großbritannien für Europa weitermachen wie bisher. Er wird also der britischen Kirche weiterhin helfen, ihre gemeinsamen Programme mit den methodistischen Schwesterkirchen in Europa fortzuführen. »Ganz einfach, weil wir Christen sind, und weil unsere Treue Christus gilt und durch Christus der Welt.«
Die Überzeugungen der anderen nie wirklich verstanden
So klar sich das anhört, dieses Denken war Sloan nicht in die Wiege gelegt worden. Aufgewachsen ist er während der als »Nordirlandkonflikt« bezeichneten bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den unionistischen, also britisch orientierten Protestanten und den überwiegend irisch-nationalistischen Katholiken. Früh lernte er die Fahnen der auf Großbritannien ausgerichteten Unionisten mit den Farben Rot, Weiß und Blau als »die unseren« wahrzunehmen. Das Grün, Weiß und Gold der Fahnen der Republik Irland, das waren »die anderen«. Diese Unterscheidung in »wir« und »die« sei ihm so geläufig gewesen, dass er die Überzeugungen der anderen nie wirklich verstehen konnte. »Wahrscheinlich, weil ich es nie versucht habe«, bekennt der jetzt irische Nordire seine damalige Sicht der Dinge. »Das können Fahnen mit dir machen«, schiebt er nach.
»Noch nie habe ich die deutsche Nationalfahne in einer Kirche gesehen«
Ein erstes Nachdenken setzte ein, als er als junger Pastor der Methodistischen Kirche in Irland seine erste Dienstzuweisung direkt an der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland erhielt. Überall seien Fahnen gewesen. »Wir« und »die« sei überall sichtbar gewesen – »und ›wir‹ waren nur wenige«, beschreibt Sloan seine Lage als junger Pastor. Später, als Missionspartner der Evangelisch-methodistischen Kirche bei seinem Dienst in Deutschland, sollten Fahnen auch wieder zum Thema werden. »Vielmehr das Fehlen von Fahnen«, wie Sloan in seinem Blog die ihn irritierende Entdeckung in einem Land ohne Fahnen beschreibt. In Nordirland gab es das ganze Jahr über Fahnen in Kirchen oder bei besonderen Gottesdiensten zu sehen. In deutschen Gemeinden habe er eine ganz andere Einstellung zu Fahnen wahrgenommen. Die schrecklichen Erfahrungen im Dritten Reich, die Hitlerjugend und die kommunistische Jugend in Ostdeutschland – immer seien Fahnen und Uniformen dafür prägend gewesen – hätten die Menschen viel vorsichtiger gemacht. »In meiner ganzen Zeit hier habe ich die deutsche Nationalfahne noch nie in einer Kirche gesehen!«, ist das überraschte Fazit des fahnengeprägten nordirischen Pastors.
Dem Auftrag grenzenlos gerecht werden
Sein Christsein habe ihn verändert. »Ich denke nicht mehr in ›wir‹ und ›die‹.« Fahnen und die Bedeutung von Treue hätten für ihn »seit ich ein Christusnachfolger wurde«, eine völlig neue Bedeutung bekommen. Deshalb konnte er angesichts des Brexits die irische Staatsbürgerschaft annehmen, um weiter seinem missionarischen Auftrag in ganz Europa grenzenlos gerecht werden zu können. Jedoch wird er weiterhin sein nordirisches Fußball-Nationalteam anfeuern, bei Rugbymeisterschaften die irische Mannschaft und bei Olympischen Spielen wird er der Mannschaft des Vereinigten Königreichs gute Leistungen wünschen. Über alle nationalen Grenzen hinweg wird er aber weiterhin seinen Verkündigungsdienst wahrnehmen, denn »unsere Mission und unsere Berufung bleiben unverändert, und deshalb werden wir sozusagen ›weiterhin die Fahne hissen‹: als Kirche, auf der gemeinsamen Reise, und demütig den Glauben in Liebe weitertragend«.
Bildnachweis: Klaus Ulrich Ruof, EmK-Öffentlichkeitsarbeit
Der Autor
Klaus Ulrich Ruof ist Referent für Öffentlichkeitsarbeit und Pressesprecher der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland in Frankfurt am Main. Kontakt: oeffentlichkeitsarbeit(at)emk.de.
Weiterführende Links
Barry Sloans Blog (Englisch)
Inspire Chemnitz, ein Projekt der Evangelisch-methodistischen Kirche unter der Leitung von Barry Sloan