Das Jahr 1968 in der DDR Von Dr. Michael Wetzel  | 

Erstickte Reformhoffnungen

Der »Prager Frühling« wird mit Gewalt niedergeschlagen.
Der »Prager Frühling« wird mit Gewalt niedergeschlagen.
Bildnachweis: Prager Frühling: Wikimedia Commons / gemeinfrei
Auch für die Menschen zwischen Ostsee und Erzgebirge war 1968 turbulent und hochpolitisch. Der »Prager Frühling« weckte Hoffnungen auf mehr Freiheit.
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Die Menschen in der DDR nahmen die 68er-Bewegung über die bundesdeutschen Medien wahr. Doch wirkten die Proteste der Studenten und die Straßenkämpfe eher befremdend und destruktiv. Denn sie richteten sich gegen das politische System der Bundesrepublik, das ihnen weit besser erschien als das eigene. Ihr Blick richtete sich noch stärker nach Prag. Dort hatte am 5. Januar Alexander Dubček, der Führer der kommunistischen Partei in der ČSSR, einen »Sozialismus unter menschlichem Antlitz« verkündet. Im benachbarten sozialistischen »Bruderland« schien möglich zu werden, was viele DDR-Bürger ersehnten: mehr Meinungsfreiheit und individuelle Lebensgestaltung, weniger uneffektive Planwirtschaft und ideologische Vereinnahmung. 

Ohnmacht in der DDR

Die Entwicklung im eigenen Land hatte solche Dinge seit dem gescheiterten Volksaufstand von 1953 und dem Mauerbau 1961 immer ferner gerückt. Am 6. April 1968 ließ die DDR-Führung in einem inszenierten »Volksentscheid« über eine neue Verfassung abstimmen. Diese zementierte die führende Rolle der SED und verbreitete in ihrem undemokratischen Geist ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem Regime. Nur wenige wagten offene Kritik; die Presse meldete 94,5 Prozent Zustimmung. Wut und Empörung rief die Sprengung der Leipziger Universitätskirche am 30. Mai hervor – sie zeigte, wie radikal der atheistische Staat mit der christlichen Tradition brechen wollte. Den Gesinnungsterror bekam auch die junge Generation zu spüren. Wer für die Rolling Stones schwärmte, langes Haar und ausgewaschene Jeans trug, musste »Disziplinierungsmaßnahmen« fürchten. 

Mit Panzern gegen Reformen

Diese geistige Enge ließ die Sympathie für die tschechischen Reformer umso größer werden. Nicht nur mangels anderer Reisemöglichkeiten, sondern aus Begeisterung verbrachten unzählige DDR-Bürger ihren Sommerurlaub 1968 in der ČSSR. Wer sich freilich Ende August dort aufhielt, erlebte hautnah, wie die Truppen des Warschauer Pakts den »Prager Frühling« gewaltsam niederwalzten. Gespenstische Szenen blieben in Erinnerung: Sowjetische Panzer rückten an, die tschechische Bevölkerung mied über Nacht jeden Kontakt zu Deutschen. Wer nicht genug Benzin im Tank hatte, musste fürchten, nicht mehr bis zur Grenze zu kommen. Besonders bitter: Die DDR-Regierung zählte zu den entschlossensten Gegnern Dubčeks. Den Bewohnern des grenznahen Erzgebirges und des Vogtlands blieb die militärische Belagerung des Nachbarn nicht verborgen. Verordnete Unterschriftenaktionen in den Betrieben »zur Sicherung der sozialistischen Entwicklung in der ČSSR« erwiesen den Zynismus des Regimes.

Die brutal erstickten Reformhoffnungen lähmten und traumatisierten. Hinzu kam eine völlig verzerrte Berichterstattung in den Staatsmedien. Jahrzehntelang war es unmöglich, über die Erinnerungen an 1968 offen zu sprechen. Viele Menschen resignierten und zogen sich ins Private zurück. Die Kirchen begannen, noch intensiver und beharrlicher die gesellschaftliche Situation theologisch zu reflektieren und ihren Platz im sozialistischen Staat zu suchen. Erste Ansätze der Bürgerrechtsbewegungen wurden sichtbar. Auch wenn die Freiheitshoffnung im August 1968 für weitere zwei Jahrzehnte unterdrückt wurde, sie ließ sich nicht beseitigen. Letztlich sie hat sich 1989 Bahn gebrochen.

Entnommen aus »Unterwegs« 2/2018

Der Autor

Michael Wetzel ist promovierter Historiker und leitet die Studiengemeinschaft für Geschichte der EmK. Er lebt und arbeitet als Laienprediger mit einer pastoralen Dienstzuweisung im EmK-Bezirk Lößnitz im Erzgebirge. Kontakt: michael.wetzel(at)emk.de.