Millionen Betroffene Von Michael Putzke (kur)  | 

»Jeden Morgen rufen wir an und fragen, ob noch alle leben«

Olesya Palinska ist promovierte Sprachwissenschaftlerin und unterrichtet Ukrainisch an der Universität in Oldenburg.
Olesya Palinska ist promovierte Sprachwissenschaftlerin und unterrichtet Ukrainisch an der Universität in Oldenburg. Die 45-Jährige gehört dort zur EmK-Gemeinde. Aufgewachsen ist sie in Stryj nahe Lemberg.
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Olesya Palinska stammt aus der Ukraine und lebt in Oldenburg. Von ihren Kontakten in die Heimat weiß sie, dass viele Menschen dort traumatisiert sind.
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Michael Putzke, Redakteur des Kirchenmagazins »unterwegs« der Evangelisch-methodistischen Kirche, hat mit der promovierten Sprachwissenschaftlerin Olesya Palinska gesprochen. Sie wuchs im ukrainischen Stryj auf, das in der Nähe von Lemberg liegt. Heute unterrichtet die 45-Jährige Ukrainisch an der Universität im niedersächsischen Oldenburg.

Michael Putzke: Was haben Sie getan, als Sie hörten, dass Putin die Ukraine angreift?

Olesya Palinska: Ich war in Oldenburg und habe vom Angriff wie alle anderen aus den Nachrichten erfahren. Meine Verwandten haben mich gleich angerufen. Der Krieg war für mich schockierend, aber nicht überraschend. Es war klar, dass das einmal kommen musste. Wir alle haben gehofft, dass es nie soweit kommt. Aber der Krieg dauert für uns schon acht Jahre.

Sie haben sich diese Eskalation vorstellen können?

Olesya Palinska: Ja, trotz aller diplomatischen Bemühungen, die unternommen wurden. Es war klar, dass das russische Militär an den Grenzen nicht nur eine Demonstration der Stärke war, sondern dass in Kürze der Krieg beginnt.

Wo lebt Ihre Familie in der Ukraine?

Olesya Palinska: Meine Familie lebt in der Stadt Stryj nicht weit von Lemberg. Diese Region ist noch sicher. Bisher gab es dort noch keine Luftangriffe. Es gibt noch Strom. Telefon und Internet funktionieren. Wir können täglich telefonieren. Aber es kommen Flüchtlinge aus dem Norden, Osten und Süden der Ukraine. In Lemberg sind jetzt Tausende, die fliehen. Viele wollen weiter nach Westen. Die Einwohner in Lemberg helfen den Flüchtlingen. Es sind wirklich Tausende, die jetzt kommen, jeden Tag.

In Lemberg gib es eine EmK-Gemeinde. Was geschieht dort jetzt?

Olesya Palinska: Vor einigen Tagen habe ich mit dem Pastor telefoniert. Die Gemeinde hat eine große Wohnung in der Stadt und Räume für Kinder. Jetzt haben sie darin Flüchtlinge aufgenommen. Vor allem Leute aus anderen Kirchen aus Kiew, Cherson und weiteren Städten.

Was brauchen die Menschen am dringendsten?

Olesya Palinska: Vor allem brauchen die Menschen Lebensmittel. Die EmK in den USA unterstützt uns mit Geld. Lebensmittel und weitere Dinge kann man in Lemberg jetzt noch kaufen. Das ist noch nicht so dramatisch wie in Kiew oder in Charkiw.

Was macht Ihnen am meisten Sorgen?

Olesya Palinska: Ich habe mit Freundinnen gesprochen und alle sagen, dass man die kaputten Gebäude wieder aufbauen kann. Aber die Menschen sind stark traumatisiert. Es sind Millionen, die vom Krieg betroffen sind. Was die Leute erlebt haben, ist zu schrecklich. Jeder Morgen beginnt damit, dass wir einander anrufen und fragen, ob noch alle leben.

Putin erhebt Anspruch auf die Ukraine. Wie empfinden Sie das?

Olesya Palinska: Es ist die Frage, ob wir mit den Russen ein Volk sind? Das kann ich nicht so sagen. Ich habe gerade ein sprachwissenschaftliches Projekt gemacht, in dem deutlich wird, dass es um Identität geht. Viele Leute, auch im Süden der Ukraine, in Cherson und Odessa, betonen ihre Eigenständigkeit. Wir sind nicht ein Volk zusammen mit den Russen, wir sind anders. Wir haben unsere eigene Geschichte und Kultur. Wir sind mit Russland verbunden. Dort leben viele Verwandte von uns. Aber Russland ist Russland, und die Ukraine ist die Ukraine.

Wie soll Deutschland, wie soll Europa Ihrer Meinung nach reagieren?

Olesya Palinska: Ich habe kürzlich mit meiner Schwester gesprochen. Sie hat gefragt, warum hilft uns Europa nicht? Da habe ich widersprochen. Europa setzt sich stark für die Ukraine ein und hilft. Als der Krieg in Georgien ausbrach, war das für uns auch weit weg. Jetzt ist dieser Krieg an den Grenzen Europas. Die Menschen in der Ukraine verstehen, dass wir für uns selbst einstehen müssen, aber wir brauchen Unterstützung, diplomatisch, militärisch und humanitär.

Dieses Interview erschien im Kirchenmagazin »unterwegs« der Evangelisch-methodistischen Kirche – Nummer 7/2022 vom 27. März 2022.

Der Autor

Michael Putzke ist Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche und leitet die Redaktion des zweiwöchentlich erscheinenden Kirchenmagazins »unterwegs«. Kontakt: redaktion(at)emk.de