ÖRK-Vollversammlung Karlsruhe Von Klaus Ulrich Ruof  | 

Die Erde kümmert sich um uns – nicht wir um die Erde!

Glen »Chebon« Kernell, Angehöriger des Clans der Muskogee Cree in der Volksgruppe der nordamerikanischen Seminolen
Einer von 0,004 Prozent derer die von der nordamerikanischen Urbevölkerung »überlebt« haben: Glen »Chebon« Kernell, Angehöriger des Clans der Muskogee Cree in der Volksgruppe der nordamerikanischen Seminolen.
Bildnachweis: Klaus Ulrich Ruof, EmK-Öffentlichkeitsarbeit
Die ÖRK-Vollversammlung ist eine große Plattform, die auch denen Gehör verschafft, die an den Rand gedrängt sind und deren Lebensraum bedroht ist.
4 Minuten

Es gibt große Delegationen bei der 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Karlsruhe. Manche, wie die Orthodoxen fallen schon durch ihre Kleidung auf. Auch kleinere Delegationen können auffallen, wenn sie in traditioneller Kleidung in Erscheinung treten. Überhaupt ist dieses Welttreffen vieler Kirchen bunt und vielfältig. Nicht nur der Kleidung wegen, sondern auch im Blick auf Themen und Herausforderungen, die in den Blick genommen werden.

Die westliche Kultur wird herausgefordert

Nicht nur in Karlsruhe verschaffen sich die »kleineren« Gruppen Gehör, die politisch oder gesellschaftlich, aber auch im religiösen und manchmal auch im kirchlichen Bereich eher an den Rand gedrängt sind. Es fällt auf, wie selbstverständlich die westlich geprägte Kultur diesen Menschen und Volksgruppen Unrecht angetan hat. Das Beharrungsvermögen westlicher Kultur und kirchlicher Prägungen ist längst nicht überwunden. Ein Gespräch mit einem evangelisch-methodistischen Pastor aus den USA gibt Einblick in die Erfahrungen an den Rand gedrängter und bedrohter Kulturen.

Romantisiert und fast ausgerottet

Als »Indianer« wäre Pastor Glen Kernell »früher« bezeichnet worden. Sein Name in seiner Stammessprache ist »Chebon«. In Zeiten korrekter Sprache wird es schwerer, den Menschen, der mir gegenübersitzt zu benennen. Ein »Indigener«? Klingt sehr korrekt, aber im Alltag reden wir so nicht. Ein »Eingeborener«? Das klingt in unseren Ohren heute nicht so gut, ist aber die wörtliche Übersetzung des lateinischen »indigen« ins Deutsche. Dann doch besser »Ureinwohner«?, was dem Alltagssprachgebrauch wohl am ehesten entspräche, aber auch nicht ganz ohne Unwohlsein ins Schriftliche wandert. Es ist der einige Male von meinem Gegenüber verwendeten englischen Bezeichnung »first nations«, also »erste« oder »früheste Nationen«, wohl am nächsten.

Wie dem auch sei. Mir sitzt Chebon gegenüber, und im direkten Gespräch ist es viel einfacher als beim Schreiben. Die »Korrektheit«, oder besser die aufrichtige Zuwendung findet im aufmerksamen Zuhören statt. Ich muss auch nicht viel mehr als zuhören, weil Chebon erzählt. Interessant erzählt. Schmerzvoll erzählt. Bereitwillig, aber auch sehr ehrlich mitteilt, was ihn und seine Geschichte ausmacht. Diese ist viel schöner, mächtiger, bedeutsamer und reicher als das, was »wir« mit unserer überlegenen »zivilisierten« Kultur daraus gemacht haben – nämlich romantisiert und fast ausgerottet.

Denn von den Menschen und Völkern Nordamerikas, die von den neuankommenden Europäern angetroffen wurden, sind heute gerade einmal noch 0,004 Prozent übrig, erklärt mir Chebon. »Ich bin einer von ihnen«, sagt er. In der Ruhe, mit der er das sagt liegt Stolz und Schmerz. Die andere Zahl, die zur Gesamtsumme von hundert Prozent führt, nennt er auch: 99,996 Prozent. Wo diese Zahl fällt, ist die innere Schlussfolgerung, erschließt sich sofort das Wort »alle«. Das exakte »fast alle«, zahlenmäßig ja korrekt, klänge geradezu untertreibend.

Menschen, die sich Gehör verschaffen wollen

Aber da sitzt einer von diesen null-komma-null-null-vier Prozent und bezeichnet sich dann mit dem englischen Wort »survivor«, also »Überlebender«. Angesichts der Prozentzahlen ist das sofort klar: Die auf dem nordamerikanischen Territorium ankommenden Europäer entpuppten sich nicht als Besucher und Entdecker, wie es schönschreibend oft heißt. Schlussendlich war es eine rauschhafte Eroberung und Aneignung eines ganzen Landes, eines ganzen Kontinents. Die Bevölkerung mit einer Hunderte, ja Tausende Jahre alten Kultur wurde überrannt, unterdrückt, abgemetzelt, Familien getrennt und Kinder umerzogen.

Aber sie sind noch da, und Chebon ist einer von ihnen. Er gehört zur Volksgruppe der Seminolen und ordnet sich darin dem »Clan«, also dem sehr großen Stamm der »Muskogee Creek« zu. Von diesen Volksgruppen der ursprünglichen Bewohner des nordamerikanischen Kontinents befänden sich über einhundert verteilt über das heutige Gebiet der Vereinigten Staaten von Amerika. Von absoluten Zahlen ist in dem Gespräch nicht die Rede. Aber was bedeuten Zahlen, wenn hier Gruppen von Menschen sind, denen ihre Rechte genommen wurden. Denen tatsächlich ihre Vor-Rechte und ihre Daseinsberechtigung gewaltsam genommen wurden und die auch heute noch darum ringen müssen, wahrgenommen zu werden.

Es sind Menschen, die sich Gehör verschaffen wollen und die ihnen zustehende Rechte einklagen, Menschen, die für ihr kulturelles Leben als Nachfahren einst großer Völker ausreichend große Teile des ihnen ursprünglich gehörenden Landes zugesprochen bekommen wollen. Sie wollen nicht nur abgeschoben sein in entlegene, teilweise verschmutzte und vergiftete Landstriche. Sie wollen Land, das ihnen nicht gleich wieder streitig gemacht wird, weil sich »darunter« plötzlich Bodenschätze befinden. Verständlich. Unterstützenswert. Aber bis heute nicht wirklich zugestanden.

Die Anliegen der Ureinwohner zur Sprache bringen

Das Gespräch bewegt sich durch Chebons Leben, durch das der Volksgruppen der Ureinwohner Nordamerikas und der heutigen in vielen anderen Teilen der Welt schon längst ebenfalls bedrohten Volksgruppen indigener Bevölkerungen. Chebon hat als Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK) mehr als zehn Jahre lang in Gemeinden in Oklahoma gearbeitet. Der Bundesstaat liegt im zentralen Süden der Vereinigten Staaten und birgt heute die Heimat der Seminolen. Dorthin wurden sie aus ihrem ursprünglich Siedlungsgebiet im Südosten Nordamerikas, dem heutigen Bundesstaat Georgia, umgesiedelt.

Der 45-jährige Familienvater von fünf Kindern hat Politikwissenschaften studiert und einen Masterabschluss in Theologie. Seit drei Jahren ist er Leiter des evangelisch-methodistischen Native American Comprehensive Plan (NACP). Dieser Arbeitsbereich soll in der EmK in umfassender Weise die Anliegen der amerikanischen Ureinwohner zur Sprache bringen und Wege entwickeln, mit denen den Forderungen dieser Gruppen entsprochen wird. Dabei geht es um die Bewahrung der jeweils eigenen Sprache der Volksgruppen und um ein Verständnis für die ganz eigene und ursprüngliche Spiritualität dieser Volksgruppen. Auch innerhalb der Kirche ist da noch viel Spielraum, um diese Spiritualität zu achten. Auch der Gewalt gegen Frauen und Kinder dieser Volksgruppen müsse noch viel mehr entgegengesetzt werden.

Erdverbundenheit führt zur Ehrfurcht

Eine ausdrückliche Zielsetzung des NACP, erklärt Chebon, ist die immer bedeutender werdende Anstrengung für Klimagerechtigkeit. Die fatalen Klimaänderungen beträfen zuerst genau jene Menschen und Volksgruppen in allen Teilen der Welt, die dazu eigentlich gar nichts beigetragen haben. Dem ehrfürchtig immer wieder von der »Mutter Erde« sprechenden Nachfahren der amerikanischen Ureinwohner ist abzuspüren, wie respektvoll der Umgang dieser naturverbundenen Völker mit der Erde ist.

Deshalb spricht er sich auch gegen die in den Kirchen üblicherweise verwendete biblische Formel aus, die den Menschen als Verwalter und Fürsorger der Erde beschreibt. Es sei umgekehrt. »Nicht uns gehört die Erde und wir kümmern uns um sie, sondern wir gehören zu ihr und sie kümmert sich um uns«, sagt Chebon. »Sie hat uns über unzählige Generationen hinweg alles zukommen lassen, was wir brauchen – Luft, Wasser und Früchte – und hat uns nie etwas vorenthalten«, unterstreicht er die Bedeutung »unserer Mutter Erde«. Diese Grundhaltung ändere die Sichtweise, die eine wirtschaftliche Nutzung nicht ausschließe. Allerdings sei der Ansatz ein völlig anderer: die Schätze der Erde nicht auszubeuten sondern zu empfangen und über Generationen hinweg zu bewahren.

Der Grund für John Wesleys Scheitern in Amerika

Fast nebenbei flocht der Muskogee noch eine Begebenheit ein, die die Tragweite der überlegenen, aber unverständigen »westlichen«, sich zivilisiert nennenden Kultur beschreibt. Das Besondere daran: Die Erzählung ist mit der Geschichte des Methodismus aufs Engste verbunden, genauer mit John Wesley. Der war ab 1736 in den amerikanischen Kolonien, um die »Indianer« zu missionieren. In Georgia im Südosten Nordamerikas war er in der Stadt Savannah an Land gegangen. Die »Indianer«, denen er dort begegnete, gehörten dem Stamm der Muskogee an, also den Vorfahren meines Gegenübers. Wesley scheiterte bekannterweise daran, »die Indianer von Georgia im Wesen des Christentums zu unterweisen«, wie er selbst in seinem Tagebuch schreibt.

Wesley nimmt das auf der Rückreise nach London zum Anlass, über »Bekehrung« nachzudenken. Chebon beschreibt den Misserfolg, indem er auf den grundlegend falschen Ansatz hinweist: Wesley habe »eine ganz simple Vorstellung von Bekehrung« gehabt, die sich aber nicht ereignete. Die Schlussfolgerung des Nachfahren von Wesleys »Indianern«: »Er hatte gar nicht wahrgenommen, wen er vor sich hatte.« Das seien Menschen gewesen, die schon eine eigene, »ausgedehnte Kultur mit weltverstehenden Weisheiten« hatten, die schon lange vor Ankunft der Europäer existierten. »Das kann doch nicht über Nacht verändert werden!«, erklärt Chebon und legt damit den Finger in die Wunde solcher kurzfristiger Anstrengungen christlicher Mission. Es gehe dabei nicht um ein echtes Interesse an den Menschen, sondern um möglichst schnelle Erfolge, ohne sich wirklich für die Lebensverhältnisse der anderen zu interessieren und die Lebensbedürfnisse dieser Menschen letztlich auch nicht zu respektieren.

Eine lange Pause – und noch viel zu tun

Die Frage stellt sich, ob die Situation heute eine andere ist. »Nein, nicht wirklich«, sagt Chebon. Im Amazonasgebiet, in Indonesien, im Pazifik oder im nordeuropäischen Lappland und auch in den amerikanischen Wohngebieten der Ureinwohner setzt sich diese schon Jahrhunderte währende dramatische und Lebensgrundlagen vernichtende Landnahme fort, »die letztlich auch ›uns‹«, und damit meint er die westliche Welt, »erreicht und unseren Lebensraum zerstört«. Dass sich das ändert, und zwar dringend, weil die Zeit drängt, ist der Antrieb für Chebons Einsatz: »Ich will meiner Kirche vermitteln, dass ›wir‹ Erkenntnisse, Wissen, ein Verständnis von Gott und über das Wohlergehen der Menschen hatten, das auch in der Kirche noch darauf wartet, umfassend respektiert zu werden.«

Das Gespräch endet mit einer langen Pause. Es gibt noch viel zu tun. Auch in der Kirche. Aber die Zeit drängt!

 

Weiterführende Links

Homepage des Native American Comprehensive Plan (NACP)
Informationen zu Angeboten der EmK im Rahmen der ÖRK-Vollversammlung

Der Autor

Klaus Ulrich Ruof ist Referent für Öffentlichkeitsarbeit und Pressesprecher für die Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland mit Sitz in Frankfurt am Main. Kontakt: oeffentlichkeitsarbeit(at)emk.de

Zur Information

Zitat aus John Wesleys Tagebuch [Johannes Wesleys Tagebuch. In Auswahl übersetzt von Paulus Scharpff. Frankfurt 1954, S. 18f] vom 24. Januar 1738 [kurz vor John Wesleys Ankunft in London auf der Rückkehr aus Amerika]:

»Es sind nun zwei Jahre und fast vier Monate, seit ich meine Heimat verließ, um die Indianer von Georgia im Wesen des Christentums zu unterweisen. Doch was habe ich selbst in dieser Zeit gelernt? Etwas, was ich am allerwenigsten erwartet hatte: dass ich, der ich nach Amerika ging, um andere zu bekehren, nicht einmal selbst zu Gott bekehrt war. (...) Habe ich (...) einen Anspruch auf den heiligen, himmlischen Charakter eines wahren Christen? Gewiss nicht. Wenn das Wort Gottes wahr ist, wenn wir beim Gesetz und der göttlichen Offenbarung bleiben müssen, so sind alle diese Dinge, die durch den Glauben an Christus veredelt, heilig, gerecht und gut sind, ohne denselben nur Dreck und Kot, zu nichts nütze als ›durch das Feuer verzehrt, das nie mehr verlöscht.‹«